Sehr verehrte Rektorin Frau Professorin Dr. Steinbeck,
Sehr verehrter Herr Professor Dr. Kaiser,
Sehr verehrte Dekanin Frau Professorin Dr. Seegers,
Sehr verehrte Kollegin Frau Professorin Dr. Troelenberg, liebe Eva, Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familienmitglieder und Freunde, Meine Damen und Herren,

Von ganzem Herzen bedanke ich mich bei der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie der Meyer-Struckmann Stiftung für die Verleihung des diesjährigen renommierten Meyer-Struckmann-Preises.

Danke auch für den herzlichen Empfang hier im Haus der Universität und für die überaus aufmerksame Laudatio.

Die Anerkennung, mit der Sie mich und meine Forschung geehrt haben, ist ebenso eine Anerkennung für das noch recht junge Feld der Transkulturellen Studien. Und hier hat die Universität Düsseldorf eine Pionierrolle, denn Sie haben den in Deutschland ersten und bislang einzigen Bachelor-Studiengang in den Transkulturellen Studien eingerichtet. Dazu gratuliere ich Ihnen herzlich.

In den nächsten 30 Minuten möchte ich gerne mit Ihnen aus meiner Arbeit als Kunsthistorikerin einige Grundsätze sowie Themenbeispiele der Transkulturellen Studien teilen.

Grundlegend für das disziplinübergreifende Forschungsgebiet derTranskulturellen Studien ist das Konzept der Transkulturation – oder in seiner germanisierten Variante Transkulturalität – wobei ich den ersten Begriff bevorzuge, denn er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen Prozess statt auf eine Essenz.

Der Begriff beleuchtet Transformationsprozesse, die sich in Begegnungen und den daraus folgenden langzeitigen Beziehungen zwischen Regionen und Kulturen entfalten. Solche Prozesse sind keine alleinige Eigenschaft unserer globalisierten Gegenwart, sondern lassen sich in allen Epochen untersuchen, lange bevor die Entstehung von globalen Kapitalmärkten und weltumspannenden Datennetzen die moderne Welt geformt hat. Transkulturation regt uns an, unser Verständnis von Kultur neu zu denken, der Begriff sensibilisiert uns dafür, dass wir die Konstituierung des Kulturbegriffs hinterfragen.

Denn unser gängiges Verständnis schreibt Kulturen häufig als ethnisch, religiös oder nationalstaatlich definierte, homogene Essenzen fest. Diese Definition geht auf die territorialbezogene Bildung von Nationalstaaten im späten 18. und im 19. Jahrhundert in Europa zurück und fand im 20. Jahrhundert in den jungen postkolonialen Nationen von Afrika bis Asien eine weitere Verankerung. In jüngster Zeit begegnen wir dieser Auffassung von ‚Kultur‘ in den neuen Republiken der postsowjetischen Ära wieder. Das Präfix „trans“ dient dazu, Kultur von einer hermetisch-stabilisierenden Zuschreibung zu emanzipieren.

Der Begriff der Transkulturation wurde zuerst geprägt von dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz.

In seiner 1940 in Spanisch erschienenen Studie über die Geschichte des Tabaks und des Zuckers in Kuba. 1947 folgte dann die erste englische Übersetzung, 1995 die zweite.

Indem Ortiz die Verknüpfung zwischen der Einheit der Nation und der Auffassung von Kultur hinterfragte, ermöglicht das Konzept von Transkulturation ein dynamischeres Verständnis von Kultur, konstituiert aus Konstellationen grenzüberschreitender Mobilität und der transformativen Wirkung von Beziehungen über längere Zeiträume.

Aus dem Konzept ließe sich ein Forschungsansatz entwickeln, der sich auf eine neue Ontologie der Kultur gründet. Der Ansatz macht Akteure, Prozesse und Phänomene jenseits der bisher als statisch verstandenen Kulturgrenzen ‚sagbar‘ und ermöglicht damit eine polyvalent und reziprok konzipierte Beziehungsgeschichte.

Eine sich noch im Auf- und Ausbau befindende Theorie der Transkulturation nimmt als Ausgangspunkt die Frage: In welcher Weise hat die Verschränkung von Nationsbildung sowie einer „nationalen Imagination“, um mit Benedict Anderson zu sprechen, mit der Formierung geisteswissenschaftlicher Disziplinen die grundlegenden Prämissen und Wertestrukturen unserer Fächer konstituiert?

Die Transkulturellen Studien liefern uns damit einen transformierenden Forschungsansatz, der die Praxis geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen als auch die der benachbarten Kulturinstitutionen stets neu reflektiert.

Die Erneuerung der jeweiligen Disziplinen in transkultureller Sicht heißt aber nicht, dass die Transkulturellen Studien ein disziplinäres Niemandsland bilden. Vielmehr geht es darum, die Annahmen der jeweiligen Disziplinen zu hinterfragen und ihre Werkzeuge methodisch zu schärfen.

Ich führe dies anhand des Beispiels meines Fachs – der Kunstgeschichte – hier aus.

In der Kunstgeschichte begegnen wir einem Fach, dessen epistemische Grundlage ein Narrativ des Fortschritts gewesen ist – eine Erzählung, die sichim Einklang der musealen Konstruktion von der Geschichte einer als westlich bezeichneten und in sich eingegrenzten Zivilisation entfaltet hat. Dagegen pflegen die jungen postkolonialen Staaten der außereuropäischen Welt eine im Rahmen der einzelnen Nation geformte Erzählung von einer uralten, einzigartigen Kultur, die ebenfalls über ihre neu geschriebene Geschichte und jüngst etablierten Museen zur Schau gestellt wurde. Beide Positionen – die westeuropäische als auch die nichteuropäische – haben sich mit der Zeit gegenseitig bedingt und den Kanon der Kunstgeschichte gemeinsam gebildet. Sie förderten dies, indem historische Prozesse von Verflechtung sowie die konstitutive Wirkung von ethnisch-religiöser Pluralität häufig ausgeblendet oder unter unzureichenden Begriffen etwa „Einfluss“ oder „Transfer“ oder

„Anleihe“ subsumiert wurden. Damit hängen auch diejenigen typisierenden Bezeichnungen zusammen – wie etwa islamisch, buddhistisch oder sogar westlich – oder auch französisch, japanisch, usbekisch usw. – mit denen Kunstformen und Gegenstände oft etikettiert und über diesen Weg zur Stiftung von Identitäten gebraucht werden.

Nehmen wir hier ein konkretes Beispiel: Wir begegnen in der Kunstgeschichtsschreibung Objekten und Formen, die stilistisch als „buddhistische Kunst“ klassifiziert wurden und deren Ursprünge in Südasien liegen – aber die nur deshalb eine ausgereifte, verfeinerte skulpturale Sprache hervorbrachten, weil sie das Ergebnis transkultureller Beziehungen waren, die große Regionen zwischen dem indischen Subkontinent, Afghanistan, Baktrien, den griechischen Territorien des Alexanderreichs sowie zentral- und Ostasien umfassten.

Fragen wir nach der Entstehung einer neuen Formsprache, um den Körper des Buddha dazustellen – der in den früheren Stadien der Geschichte des Buddhismus in nicht-ikonischer Form Ausdruck fand als Fußabdrücke mit dem Rad der kosmischen Bewegung. Ab dem 2. Jahrhundert – ungefähr – erscheint der Buddha in menschlicher Gestalt, als schön formierter Körper, wie wir es heute kennen

L: Fußabdrücke des Buddha, Stupa Amravati, Andhra Pradesh, Indien, ca. 3. Jh. v. Chr.

R: Stehender Buddha, Gandhara (heute Afghanistan), 2. Jh. n. Chr. Tokyo National Museum, Japan

Ein beliebter kunsthistorischer Erklärungsbegriff, der in diesem Zusammenhang Verwendung findet, ist der Begriff „Einfluss“. Gemeint ist hier der Einfluss griechischer Bildsprache, vermittelt durch unzählige Objekte und Fragmente, die in den weiten Gebieten des Alexanderreichs von Archäologen des frühen 20. Jahrhunderts ans Licht gebracht wurden. Die gängige Interpretation lautet: die buddhistische Kunst des indischen Subkontinents wurde geprägt durch eine ästhetisch hochwertige und kunsthistorisch fortschrittliche skulpturale Formsprache, und daraus sei die Stilrichtung entstanden, welche im kunsthistorischen Kanon als Graeco-Buddhist Art bezeichnet wird.

Weder diese Bezeichnung noch der Erklärungsbegriff des „Einflusses“ geben uns Einsicht in den genauen Transformationsprozess, der sich hier über einen längeren Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderte entfaltet hatte. Auch über die Gründe dieser Transformation, die ebenso entscheidend für die Entstehung einer neuen Gestalt des Körpers des Buddha waren, erfahren wir hier nichts. Um dieser Dimension auf den Grund gehen zu können, ist die Kunstgeschichte auf Forschungsergebnisse sowie methodische Impulse aus der Religionswissenschaft sowie der historischen Semantik angewiesen.

Museum of the Ancient Orient, Tokyo; Lahore Museum, Pakistan

L: Kopf von Poseidon, 2. Jh. n. Chr., Tokyo, Museum of the Ancient Orient

R: Buddha Shakyamuni, 2.-3. Jh. n. Chr., Lahore Museum, Pakistan

Es handelt sich hier um einen vielschichtigeren, mehrere Regionen in Süd, Zentral und Westasien umfassenden transkulturellen Aushandlungsprozess, der dafür entscheidend war, dass es sich nicht um eine bloße Übernahme der

Körpersprache griechischer Götter handelte. Um diesen Prozess nachzuzeichnen, ist es nötig, nicht nur den Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen bildlichen Idiomen kleinschrittig aufzudecken, sondern ebenso die in Textüberlieferungen niedergeschriebenen Attribute des Buddha sowie ihre erneute Historisierung und Übersetzung in ein künstlerisches Vokabular herauszuarbeiten und in die Analyse mit einzubeziehen. Denn nur so kann erklärt werden, weshalb die körperliche Gestalt des Buddha eine starke Typologisierung erfuhr sowie eine feste Symbolik von Gesten und Mimik, die für Buddhisten in allen Weltregionen entzifferbar war, die sogar die Transkulturation des Buddhismus als Weltreligion förderte und im Gegensatz zur bunten Vielfalt der leidenschaftlichen Körper aus der griechischen Götterwelt stand.

L: Göttin Athena, (Gandhara) 2. Jh. n. Chr., Lahore Museum, Pakistan

R: Stehender Buddha, 3. Jh. n. Chr., Berlin, Museum für asiatische Kunst

L: Atlant, 2. Jh. n. Chr., Peshawar Museum, Pakistan
R: Buddha, Bhumisparsha Mudra (Geste der Erdberührung), Polonnaruwa, Sri Lanka

Die hier genannten Aushandlungsprozesse offenbaren folgerichtig eine breite Palette an Strategien, also Optionen und Handlungsmöglichkeiten, für die wir eine präzisere und differenziertere Sprache benötigen. Die Handlungen können von selektiver Aneignung, Mediation, Übersetzung, Umdeutung, Neukonfigurierung und Re-Semantisierung bis hin zu Nicht-Kommunikation, Abgrenzung, Ablehnung oder Widerstand reichen – oder aber sie können durch eine Abfolge oder gar Durchmischung mancher dieser Strategien charakterisiert werden. Eine historisch ansetzende, durch mehrsprachige Quellen abgestützte Untersuchung dieser Strategien, Prozesse und Dynamiken stellt die zentrale Herausforderung transkultureller Forschung dar.

Dafür muss die Forschung einen adäquaten Begriffsapparat entwickeln, der einen höheren Erklärungswert besitzt als die vielbenutzten, häufig an Metaphern angelehnten Begriffe wie z. B. Hybridität, Flüsse oder Métissage.

Eine präzisere Begrifflichkeit, um die partikulare Morphologie transkultureller Prozesse erschließen zu können, dient dazu, etablierten Vorstellungen von festgeschriebenen Identitäten und Alteritäten sowie unverrückbaren Dichotomien zwischen Assimilation und Resistenz entgegenzuarbeiten.

Ein transkulturelles Herangehen unterscheidet sich von jenem der Transferforschung, die sich mit der Übertragung von Inhalten und Praktiken von einem kulturellen oder semantisch-visuellen System in ein anderes beschäftigt und dabei häufig von zwei autonomen, klar definierten Einheiten ausgeht. Unsere soeben beschriebene Untersuchung setzt keine strikt vorgegebenen Untersuchungseinheiten wie etwa nationalstaatliche oder zivilisationsgeschichtliche Konstrukte voraus. Vielmehr konstituiert sie ihre Untersuchungseinheiten entsprechend der Logik ihrer Fragestellung, denn Transkulturation geht von der Annahme aus, dass – im Gegensatz zu Konzepten des Inter- und Multikulturellen – Kulturen keine vorgegebenen Entitäten bilden, sondern sich über Beziehungsprozesse erschließen lassen und dadurch geformt und immer wieder erneuert werden. Sie befinden sich also im stetigen Prozess des Werdens.

Untersuchungseinheiten werden definiert je nach Logik von verschiedenen involvierten Akteuren, und zwar mit Blick auf Zirkulationsprozesse und historische Beziehungen. Diese verlaufen häufig quer zu den etablierten Kategorien wie etwa Territorium, Staat, Nation, Religion, Ethnie oder Sprachgemeinschaft. Innerhalb von großräumigen, durch Begegnung und Austausch konstituierten geographischen Regionen treten damit spezifische lokale Formen und Praktiken in den Vordergrund, deren Untersuchung eine mehrfach gelagerte, somit transkulturelle Perspektive verlangt. Dazu ist ein Ansatz notwendig, der zwischen Lokalem, Regionalem, Nationalem und Globalem alterniert, diese Bezugsebenen aber nicht nebeneinander, sondern quasi simultan behandelt und sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen diesen Ebenen auseinandersetzt.

Als kritischer Ansatz setzt sich die transkulturelle Forschung mit zahlreichen in den Geistes- und Sozialwissenschaften gängigen binären Begriffspaaren kritisch auseinander. Dazu gehört auch das Paar Zentrum-Peripherie.

Die dichotomen Begriffe Zentrum-Peripherie sind Teil einer Geographie des Bewusstseins, einer mentalen Landkarte, die bestimmte Orte als weiter entfernt von den anderen markiert. Dabei geht es weniger um reale Entfernungen, sondern vielmehr um kulturelle Projektionen, welche zugleich historische Annahmen sind.

In sich trägt die Bezeichnung der Peripherie negative Konnotationen – sie ruft Assoziationen der Marginalität, Unbedeutsamkeit und einer gewissen Obskurität hervor. Dennoch ziehe ich den Begriff heran – wie es im Untertitel meines jüngst erschienenen Buches steht: Meditations from the Periphery lautet der zweite Teil des Buchtitels. Ich nutze den Begriff als methodisches Werkzeug einer transkulturellen Kunstgeschichte, um anhaltende hierarchische Strukturen sowie verfestigte intellektuelle Ansprüche des Zentrums in Frage zu stellen. Die Peripherie steht hier nicht ausschließlich für einen bloßen Standort, sondern wird als kritisches Denkinstrument verstanden, um gängige Gewissheiten sowie kanonische Wissensbestände unter analytischen Druck zu setzen sowie die Neujustierung theoretischer Paradigmen anzustoßen.

Um die Kraft des binären Begriffspaares Zentrum und Peripherie zu brechen, reicht nicht allein eine simple Umkehr der etablierten Hierarchie, bei der ihre Teleologie in Kraft bleibt. Beide, das selbstdesignierte Zentrum sowie die als peripher erklärten Regionen der Welt, verlangen in ihrer Verflochtenheit erforscht zu werden, damit sich die Theoriebildung als transkultureller Prozess entfalten kann.

Das Schema Zentrum–Peripherie als paradigmatisches Erzählmuster der Kunstgeschichte lässt sich deutlich über die Geografie der Moderne, die bis heute den etablierten kunsthistorischen und damit den musealen Diskurs mitgeformt hat, verfolgen. Eine Kunstgeschichtsschreibung, die sich überwiegend mit der Erstellung von Genealogien stilistischer Einflüsse beschäftigt, hat uns eine Erzählung von der Moderne als Exportgeschichte zivilisatorischer Errungenschaften aus westlichen Zentren in die aufsaugenden Peripherien der Welt beschert.

Der Gegensatz zwischen dem Ort des Ursprungs, dem Hort der Originalität, und den vermeintlich abgekupferten oder Nachzügler-Varianten der Moderne findet sein Echo im musealen Kanon. Die Exklusion nichteuropäischer Strömungen aus den großen Sammlungen moderner Kunst fällt schlagartig auf, vor allem im Gegensatz zur äußerst sichtbaren Gegenwartskunst aus unzähligen Weltregionen, die in Biennalen und Großausstellungen anzutreffen ist. Sei es London, New York oder Berlin, an solchen Orten bilden die Abteilungen zur Moderne und Avantgarde in den großen Museen eine Art Glaswand – hier hat nicht nur die außereuropäische, sondern auch die osteuropäische Avantgarde nach wie vor keinen Platz.

Wo und nach welchem Prinzip lassen sich in diesem Narrativ die sogenannten „Außenposten der Moderne“, etwa Shanghai, Bombay, Sao Paulo, Kairo, Mexiko- Stadt, Beirut, Lagos, Teheran oder Ljubljana, welche die jüngere Forschung nach und nach ans Licht bringt, zuordnen? Jeder dieser als peripher betrachteten Orte bildete ein Laboratorium für künstlerische Experimente, die aus modernen Subjektpositionen hervorsprudelten und an einem wachsenden Netzwerk von grenzüberschreitenden, häufig weiträumigen Begegnungen beteiligt waren.

Indem eine transkulturell perspektivierte Kunstgeschichte Künstler*innen auch unter kolonialen Bedingungen die Fähigkeit, eigenständige künstlerischen Positionen zu entwickeln, zuspricht, regt sie eine Neuschreibung kultureller Geografien an. Es geht hier nicht um die bloße Umkehrung der alten Zentrum– Peripherie-Modelle, sondern um eine veränderte Kartografie auf der Basis von Gemeinsamkeiten, Reziprozität und Vielfalt.

Obwohl sie durch ein Machtungleichgewicht gekennzeichnet war und sich das kolonisierte Subjekt in einem Raum der Unfreiheit befand, setzte die Begegnung europäischer Künstlerinnen und Intellektuellen mit ihren Kolleginnen ausden Kolonien auf beiden Seiten Kreativität frei; es war diese Begegnung, die der Kunst und Literatur der Moderne ihren kritischen Unterton verlieh.

Der Aufstand gegen die künstlerischen und literarischen Orthodoxien der bürgerlichen Kultur in Europa wurde durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Objekten, Praktiken und Philosophien des kolonisierten Anderen erst möglich gemacht, und umgekehrt öffnete dieselbe Begegnung den Raum, durch den die koloniale Hegemonie untergraben und das „Andere“, das „Periphere“, ein autonomes Subjekt werden konnte.

Schauen wir uns dieses Foto aus dem Jahr 1950 an. Der Ort trug die Bezeichnung Artists‘ Centre – es handelt sich um einen etwas engen Galerieraum in der westindischen Hafenstadt Bombay – heute Mumbai. Wir sehen eine gemischte Gruppe aus Indern und Europäern – Künstler, Kritiker, Kunstkenner und Galeristen – die alle ein Gefühl von Optimismus und Solidarität verbreiten. Das Foto dokumentiert die Gründung der Progressive Artists‘ Group im Jahr 1947 – ein kollektives Projekt der Moderne in Indien, das mit der Unterstützung jüdischer Emigranten aus Zentraleuropa entstand. Es handelte sich dabei um Kunstkritiker und Kunstsammler, die während der Naziherrschaft Zuflucht in Bombay suchten.

Fotoarchiv: Chemould Centre, Mumbai

Progressive Artists‘ Group, Bombay, Foto 1950

Die Progressive Artists Group verdankte sich dem Impuls, den Akademismus herauszufordern, der von den kolonialen Kunstschulen verbreitet wurde. Ihre Künstler hingegen experimentierten mit dem Vokabular des Kubismus und Expressionismus, jener beiden Stilrichtungen, die bei einer ähnlichen Revolte gegen die Ästhetik der akademischen Kunst an vorderster Front standen. Die meisten Mitglieder der Künstlergruppe waren nach Bombay ausgewanderte Migranten, die ihr auf dem Widerstand gegen Kolonialismus und Faschismus fußendes Engagement für die Kreativität einte. Sie teilten die aufregende Erfahrung der Dekolonisierung miteinander und gewannen ihre Energie aus der experimentellen Stimmung, die in dieser eng miteinander verwobenen Gemeinschaft von Künstlern und Kritikern aus Zentraleuropa und dem indischen Subkontinent herrschte.

In mehreren Regionen Asiens und Afrikas schloss die Nation als Schauplatz die Auseinandersetzung mit der Welt keineswegs aus. Für die Progressive Artists war die moderne Kunst vor Ort verankert und gegenüber der Gemeinschaft verpflichtet, doch zugleich blickte sie über die Grenzen der Nation hinweg auf den mexikanischen Muralismus, den Kubismus oder die négritude. Die Nation verbanden sie nicht so sehr mit einem territorialen oder politischen Gebilde, sprich dem Nationalstaat, sondern imaginierten sie als eine utopische Idee, von der ausgehend ein dialogischer Modernismus Gestalt nehmen konnte.

Für Künstler wie z.B. M. F. Husain – der hier vorne sitzend im Bild zu sehen ist und dessen Gemälde im Hintergrund ausgestellt wird und seinesgleichen stellte die Nation einen Fundus von Mythen und ikonischen Bezügen, die als zivilisatorisches Ethos, als eine kulturelle Ressource aufgerufen werden konnten, aber zugleich erfolgreich in modernistische Idiome übertragen werden mussten, um einen Platz in der gegenwärtigen Kunstwelt einzunehmen.

Peabody Essex Museum, Salem, USA, Chester and Davida Herwitz Collection

Maqbool Fida Husain (1915-2011), Man, 1950

Hier zwei weitere Produktionen aus der Zeit, die anhand von unterschiedlichen bildlichen Mitteln der Moderne den Tod von Gandhi im Jahr 1948 thematisieren.

1. Private Sammlung, Neu Delhi; 2. Sammlung Erwin Neumeyer, Wien.
  1. Krishen Khanna, News of Gandhi‘s Death, 1948

  2. Eternal Sleep, Kalenderdruck, unbekannter Künstler, Kalkutta 1948

Die künstlerische Moderne als globaler und relationaler Prozess reiste auf dieselbe Weise, wie es Menschen und Dinge taten. Der Prozess verlief nicht immer linear oder nahtlos, sondern ungleichmäßig, sogar sprunghaft. Die Chronologie kann nicht mehr der entscheidende Wegweiser sein, um die Moderne auf der Karte der Kunstgeschichte auszuschildern. Folgen wir der Logik von unzähligen regionalen Geschichten, so entdecken wir die Spuren noch kaum anerkannter Netzwerke, Schauplätze der Interaktion sowie Zeitschriften und Universitäten, welche die binären Kontraste aufbrechen, die den Westen und den Rest der Welt einander entgegensetzen.

1. Familienarchiv Ramses Younan; 2. Private Sammlung, Qatar
  1. Mitglieder der Gruppe surrealistischer Künstler, Art et Liberté, Kairo 1941

  2. Ramses Younan, Untitled, 1939

Der Surrealismus in Nordafrika, das New Negro Movement, die Gruppe CoBrA oder die Harlem Renaissance sind nur einige wenige einer wachsenden Zahl von Beispielen, die belegen, dass die moderne Kunst von Beginn an ein über mehrere Zentren verfügendes, von jeher kulturübergreifendes Phänomen war. Seine Akteure setzten sich auf dynamische Weise mit der internationalen Sprache dieser Kunst auseinander. Sie waren sich im Klaren, dass die Modelle, denen sie begegneten, Teil einer internationalen Bewegung waren, ohne dabei von ihrer Kanonizität auszugehen.

Worcester Art Museum, Massachusetts, USA

Faith Ringgold, Picasso‘s Studio, 1991

Blicken wir nun in Richtung Europa: Wie setzt sich die transkulturelle Forschung mit den Standorten und den Akteuren der Moderne in Europa auseinander? Lässt sich im Licht des oben skizzierten Schema das selbst designierte Zentrum weiterhin ausschließlich von innen heraus erschließen?

Hier besteht in der Tat noch ein enormer Forschungsbedarf – bislang können wir nur einzelne Schlaglichter lokalisieren.

An dieser Stelle ein kurzgefasstes Beispiel aus der Geschichte der Abstraktion, die bislang als Errungenschaft par excellence einer vermeintlich „reinen“ Euro- Amerikanischen Moderne gilt.

Für die Geschichte der Abstraktion hat die feministische Forschung das Werk der schwedischen Malerin Hilma af Klint neu bewertet und sie nun als einschlägige Akteurin der expressionistischen Abstraktion anerkannt – gemeinsam mit den so designierten Meistern wie Kandinsky, Malewitsch, Mondrian oder Kupka.

Stiftelsen Hilma af Klints Verk

Hilma af Klint (1862-1944) Selbstporträt o.D.

Eine überwiegend vernachlässigte Dimension ihres Werkes und der westlichen Moderne überhaupt, die ohne koloniale Begegnungen nicht zu denken wäre, ist die Verknüpfung zwischen Abstraktion und theosophischem Denken – was die kunsthistorische Forschung für das Werk von Kandinsky bereits angedeutet hat.

Die modernen Cultural Studies haben viel über die europäische Exotisierung des Orients geschrieben. Weniger erforscht sind die langzeitlichen transkulturellen Prozesse, welche die Clichés hinter sich ließen und aus einer tieferen Auseinandersetzung mit Texten und Bildern – oder mit Performanz wie z.B. Tanz – bestanden. Im Bereich der Theater- Musik- und Tanzstudien liegen uns Forschungsergebnisse vor, welche die enge, konstitutive Beziehung zwischen Theosophie und kultureller Praxis herausgearbeitet haben, einschließlich der Aneignung dieser Ideen Mitte des 20. Jahrhunderts durch autoritäre Regime.

Biographische Arbeiten über Hilma af Klint belegen ihr langjähriges Studium von Texten zum Buddhismus sowie Hinduismus und vor allem der Schriften der Theosophinnen Annie Beasant und Helena Blavatzky. Widmen wir uns ihrem künstlerischen Werk, so begegnen wir unzähligen Experimenten, bei denen theosophische Inhalte den Ausgangspunkt eines längeren Prozesses bildeten, um deren Symbolik mit künstlerischen Idiomen zu vereinen, um sie anschließend in Abstraktion zu verarbeiten.

Ausgehend von der aus der indischen Mythologie stammenden theosophischen Annahme, der Schwan stehe für die symbolische Einheit von Geist und Materie, schuf af Klingt eine besondere Gemälde-Serie.

Das erste Gemälde, das wir hier sehen, schildert zwei Schwäne – der eine, männlich, schwarz mit gelbem Schnabel, der andere weiß – weiblich mit Gesicht und Schwimmfüßen in blau. Die stark kontrastierende Palette betont die Gegensätze – Hell-Dunkel, männlich-weiblich, Leben-Tod.

Hilma af Klint Foundation

Hilma af Klint, Der Schwan, Serie Nr 1, 1914

Hilma af Klint Der Schwan, Serie Nr 5 1914

Während des Fortgangs der Serie erweitert die Künstlerin ihre Farbenpalette die Formen bewegen sich vom Naturalismus weg. Die ineinander verwobenen Körper des Schwanenpaars sprechen vielmehr eine Symbolsprache, sie entwickeln sich weiter bis hin zur Metamorphose in reine geometrische Form in ein aus konzentrischen Kreisen generiertes farbenfrohes, Mandala- ähnliches Rad.

Hilma af Klint Der Schwan, Serie Nr 7 1914

Stockholm, Moderna Museet

Hilma af Klint Der Schwan, Serie Nr. 17 , 1915

Der Hinweis, dass sich die Abstraktion als modernistische Strömung pluralisieren ließe, dass sie nicht ausschließlich als lineare Bewegung zwischen Paris, Berlin, Wien und New York zu kartieren sei, resoniert mit einer vergleichbaren Beobachtung durch den Kunsthistoriker Avinoam Shalem, die aus einer langjährigenZusammenarbeitmitderKolleginEvaTroelenbergzuStande kam. Denn Shalem lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die neuen transformierenden Impulse für die europäische Moderne infolge der Ankunft von großen Sammlungen islamischer Kunst in Europa während des frühen 20.Jahrhunderts.

Jetzt komme ich zum Schluss: Aber dazu gehört auch ein Wort der Vorsicht.

Für viele von uns, geleitet durch unser Engagement für Weltoffenheit, kann der transkulturelle Ansatz mit einem gewissen Automatismus mit kosmopolitischem Wandel gleichgesetzt werden – dies macht uns weniger aufmerksam auf transkulturelle Begegnungen, die vielleicht unvollständig bleiben, die den gewünschten Wandel nicht zu Stande bringen – oder auch Friktionen oder Ablehnung erleben. Es gibt viele Beispiele von solchen Begegnungen, welche, initiiert durch gemeinsame Interessen einzelner Akteure, in ihrer Wirksamkeit scheitern, wenn sich kulturelle Differenzen als unüberwindbar erweisen.

Brüche, Friktionen, Feindschaften zu analysieren ist eine ebenso wichtige Aufgabe – und ein analytisches Leistungspotential – der transkulturellen Forschung, die sonst schnell zum Mittel der Selbstvergewisserung werdenkann.

Das ehrgeizige Vorhaben der Transkulturellen Studien ist noch mit institutionellen Hürden konfrontiert. Denn die maßgebenden Strukturen in der universitären Lehre und Forschung, zum Beispiel die institutionellen Schranken zwischen den Fachbereichen, sind ebenfalls ein Produkt von nationalstaatlichem Denken weltweit sowie der Zivilisationskategorien des 19. Jahrhunderts. Diese Strukturen bieten kaum die notwendigen Voraussetzungen für eine neue Art der Zusammenarbeit der fachlichen und regionalen Expertisen. Diese Zusammenarbeit ist aber wichtig, um den transkulturellen Ansatz in Lehre und Forschung stringent verwirklichen zu können.

Dieser Aufforderung ist die Universität Düsseldorf mit ihrem neuen Studiengang bereits gefolgt. Dem wünsche ich großen Erfolg!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.