Magnifizenz, Spectabilis, sehr geehrter Herr Kaiser, meine Damen und Herren,
haben Sie herzlichen Dank für die ehrenden Worte und dafür dass Sie heute alle hier erschienen sind. Ich bin außerordentlich ergriffen und über die Maßen dankbar für die unerwartete Ehrung, die mir durch die Verleihung dieses wunderbaren Preises widerfährt. Danken möchte ich nicht nur der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und ihrer Philosophischen Fakultät, dem Kuratorium und dem Vorsitzenden der Meyer-Struckmann-Stiftung, sondern auch den Menschen, mit denen ich im Laufe all dieser Jahre zusammenarbeiten durfte. Der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison, ein Mann, der fast 1.100 Patente angemeldet hat, hat gesagt: "Genius is one per cent inspiration, ninety-nine per cent perspiration."[1] Womit Edison das Genialische auf körperliche Funktionen reduziert hatte.

Ohne Edison widersprechen zu wollen und ohne den Geniestatus für mich in Anspruch nehmen zu wollen, möchte ich doch behaupten, dass das eine Prozent Inspiration in den Geisteswissenschaften absolut unverzichtbar ist. In meinem Fall kam dieses eine Prozent oft von meinen Studierenden. Anders als viele Menschen glauben, lernen nämlich nicht die Studierenden von ihrem Lehrer, sondern es ist der Lehrer, der von seinen Schülern und Schülerinnen lernt. Ich bin deshalb auch besonders froh, dass heute Abend einige Menschen zugegen sind, von denen ich in den letzten Jahrzehnten lernen durfte. Lernen ist ja bekanntlich nicht nur ein geistiger Vorgang.

Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Verbindung zwischen Gehirn und Bewusstsein, zwischen Körper und Geist, sehr intensiv sein muss. Lange allerdings hat sich die Geschichtswissenschaft auf den Geist konzentriert und die Körper ignoriert. Es gab zwar Geistesgeschichte, intellectual history, Rechtsgeschichte, politische Geschichte und Diskursgeschichte, aber keine Körpergeschichte. Wir haben als Studierende immer darüber gewitzelt, dass Historiker keinen Unterleib zu haben schienen.

Die Körpergeschichte ist eine Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, in der die Interdependenz von Körper und Gesellschaft in ihrer historischen Dimension untersucht wird. In der Körpergeschichte gehen wir davon aus, dass gesellschaftliche Werte und Normen, Wissens- und Ideensysteme, Strukturen und Technologien den menschlichen Körper prägen. Leitfrage der Körpergeschichte ist, wie soziale Wirklichkeiten durch körperliche Praktiken her- und dargestellt werden. Körpergeschichte ist die Geschichte der Diskurse in theologischen, philosophischen, medizinischen, sportwissenschaftlichen, anthropologischen, kriminalistischen Texten, in der Malerei, der Literatur, der Gesetzgebung und der Körperkultur. Die Körpergeschichte berücksichtigt darüber hinaus die körperlichen Erfahrungen von Subjekten sowie der Technologien, die im Bereich des Körpers Verwendung finden. Die Körpergeschichte speist sich historisch aus verschiedenen Wurzeln:

Da sich die Sportgeschichte immer schon mit dem Körper in Bewegung auseinandergesetzt hat, sind die Anfänge der Körpergeschichte in der Geschichte der Körperkultur zu finden. Diese Teildisziplin geht auf den Anfang der Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. Speziell in Frankreich gab eine Geschichte der Körperpraktiken, die auf den Arbeiten von Marcel Mauss und Michel Foucault, vor allem aber Jean-Marie Brohm beruhte. Brohm gab in den siebziger Jahren die Zeitschrift Quel Corps? heraus, die an der Grenzlinie von Soziologe und Geschichte angesiedelt war. In der Medizingeschichte wurde zweitens frühzeitig der biologische Grundbestand und die jeweilige gesellschaftliche Interpretation dieses Grundbestands thematisiert. Drittens – und dies ist wahrscheinlich der wichtigste Aspekt – wurde in der Frauen- und Geschlechtergeschichte seit den siebziger Jahren zwischen Geschlecht als biologischer Kategorie (Sex) und kultureller Kategorie (Gender) differenziert. Damit wurde es möglich, über die Interdependenz von Biologie und Kultur nachzudenken. Wenn, wie die amerikanische Philosophin Judith Butler feststellte, Geschlecht das Ergebnis performativer Wiederholung von Sprechakten ist und nicht eine natürliche oder unausweichliche Absolutheit beanspruchen kann, dann kommen diskursiven Äußerungen eine wichtige Rolle, wenn nicht die wegweisende Rolle in der Definition von Geschlecht zu. Gegen diese von vielen Kritikerinnen und Kritikern nicht akzeptierte Betonung der Sprache bei der Definition der Materialität von Körpern erwuchs ein neuer Materialismus, der allerdings auf der kulturellen Eingebundenheit der Körper besteht. Ich nenne als nur eine Vertreterin dieser Richtung die italo-australische Philosophin Rosi Braidotti.

Wenn ich heute von Körpergeschichte spreche, meine ich eben diese Eingebundenheit menschlicher Körper in Macht-, Herrschafts- und Politikgefüge.[2] Körper sind nicht nur biologische Einheiten, sondern sie sind produktiv und als solche sind sie vielfachen Unterwerfungssystemen ausgesetzt. Die Diskurse, die Körper zu einem gewissen Maß formen, sind ihrerseits jedoch Teil größerer Einheiten, sogenannter Dispositive. Diese bestehen aus heterogenen Elementen wie Institutionen, Gebäuden, Gesetzen oder Gewohnheiten, also einer Gesamtheit bestimmter begrifflich fassbarer Vorentscheidungen, innerhalb derer sich die Diskurse und die sozialen Interaktionen überhaupt erst entfalten können.[3]

Eine so verstandene Macht geht immer durch den Körper und ist mit ihm auf vielfältige Weise verbunden. Es war Marcel Mauss, der schon 1935 in einem bahnbrechenden Aufsatz darauf hinwies, „dass sich Kultur im Körper dergestalt festsetzen kann, dass sie – im übertragenen Sinne – zur Natur wird. Fähigkeiten, Beeinträchtigungen oder Gewohnheiten, […] lassen sich nur sehr schwer wieder ablegen, sie schlagen sich buchstäblich im Körper nieder.“[4] Mein Schweizer Kollege Philipp Sarasin hat in einer 2001 vorgelegten Studie auf die Formung des Körpers durch Wahrnehmungen, Vorstellungen und Handlungen als soziale Tatsache hingewiesen.[5] Sarasin kommt zu dem Ergebnis, der „moderne Körper und sein Verhalten sei vielmehr ein kontingentes Produkt von Disziplinartechniken; seine physische Existenz unterliege dem Kalkül von staatlichen Apparaten, und seine Sexualität [sei … ein] Konstrukt eines Dispositivs, das heißt einer spezifischen Verschränkung von Diskursen, Praktiken und Institutionen.“[6]

Nirgendwo wird dies deutlicher als in der Geschichte von Körpern in Nordamerika. Von der ersten Besiedelung durch europäische Kolonisten an bis zur Präsidentschaft Donald Trumps lässt sich die Geschichte Nordamerikas und der Vereinigten Staaten als Körpergeschichte im Sinne Foucaults schreiben. Ich will dies an zwei Beispielen erläutern. Zum einen an der Geschichte der Sklaverei, die immer auch die Geschichte der Beherrschung, des Einsatzes und der Zurichtung afrikanischer Körper war. Das zweite Beispiel werde ich aus der Geschichte der Eugenik in den USA wählen, denn die USA waren wie keine zweite Nation Schauplatz einer erbitterten Diskussion über die Bedeutung der Einwanderung für die mentale und physische Gesundheit der Nation.

Die Sklaverei stellte eine direkte und brutale Herrschaft über menschliche Körper dar, die aber auch nicht ohne die von Foucault analysierte diskursive Macht auskam. Menschliche Körper wurden in der Sklaverei als bewegliches Eigentum angesehen, das entführt, gefesselt, geschlagen, vergewaltigt, gepeitscht, gebrandmarkt, geschwängert, verkauft, in medizinischen Experimenten missbraucht, als Kapitalanlage gekauft, als Zuchttiere für die Produktion neuer Körper benutzt, unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen ausgebeutet und getötet werden konnte. Doch auch diese Formen direkter Herrschaft kamen nicht ohne die diskursive Zurichtung schwarzer Körper aus. Es musste begründet werden, warum es moralisch vertretbar war, Menschen auf diese Weise zu behandeln.

Dies wurde mit den scheinbar natürlichen Eigenschaften der Verschleppten, mit den angeblich geringeren mentalen Fähigkeiten begründet oder mit ihrer Physiologie. Es wurde ein Sklavenkörper konstruiert, der sich in allen Aspekten vom weißen Körper unterschied und der diesem in jeder Hinsicht unterlegen war. Die konstruierten Unterschiede waren so groß, dass der afrikanische Körper dem von Primaten ähnlicher wurde als dem Körper seiner weißen Besitzer. Schwarze Frauen waren angeblich schamlos und promisk, schwarze Männer je nach Bedarf sexuell hyperaktiv oder physisch schwach – dies waren angeblich inhärente Eigenschaften afrikanischer Sklavinnen und Sklaven. Gemeinsam waren ihnen die unterstellte Faulheit und angeblich fehlender Intellekt, so dass die Sklaverei als eine Form der Erziehung konzipiert werden konnte, die sie mit der Notwendigkeit stetiger und produktiver Arbeit vertraut machte. Das rechtfertigte auch den besonders qualvollen und gefährlichen Transport von Sklavinnen und Sklaven auf überbelegten und hygienisch unzureichenden Schiffen, die sogenannte Middle Passage.

Die skandalösen Zustände während der Middle Passage wurden durch Anhörungen vor dem englischen Parlament im späten achtzehnten Jahrhundert aufgedeckt. Während dieser Anhörungen wurde ein Diagramm eines Sklavenschiffes, der Brookes aus Liverpool, gezeigt, aus dem die unbeschreiblichen Vorgänge an Bord eines Sklavenschiffes deutlich wurden. Ergebnis dieser Anhörung waren Gesetze, die den Mindestplatz, der jedem Sklaven zu geben sei, festlegten. Selbst wenn diese Gesetze auch umgesetzt worden wären, hätten Sklaven nur auf die Hälfte des Platzes Anspruch gehabt, der weißen Einwanderern nach Amerika im siebzehnten Jahrhundert zugebilligt wurde. Jedem erwachsenen Mann wurde ein Raum von 180 cm mal 45 Zentimeter zugestanden, für jede erwachsene Frau stand eine Fläche von 150 mal 30 cm zur Verfügung. Auf Grund dieser Vorgaben berechneten die englischen Parlamentarier, dass ein Schiff wie die Brookes bis zu 451 Sklaven gleichzeitig würde transportieren können.

Der ganze Schrecken der Middle Passage lässt sich aber nur ermessen, wenn man die Entmenschlichung berücksichtigt, die darin liegt, dass konkrete menschliche Wesen auf Unbekannte in einer Gleichung reduziert wurden, deren Ziel die Profitmaximierung des Schiffseigners darstellte. Die ehrenwerten Mitglieder des Parlaments mussten zu ihrem Erstaunen vernehmen, dass die Brookes Jahre zuvor die Mittelpassage mit 600 Sklaven an Bord zurückgelegt hatte, wobei auf Grund von Krankheit 70 von ihnen unterwegs gestorben waren.[7] An der Tagesordnung waren die Vergewaltigungen der Sklavinnen, die Auspeitschungen von Verschleppten, die Widerstand leisteten, die Ermordung der Aufständischen und der tagtägliche Terror gegen Menschen, die nicht wussten, was sie erwartete und die wirklich glaubten, am Zielpunkt von ihren weißen Entführern verspeist zu werden. Hunderttausende wurden auf diese Weise verschleppt, zunächst auf die karibischen Inseln verbracht, wo sie „gebrochen“ wurden, dann aufs Festland verkauft, wo sie auf Tabak- Zucker- oder Reisplantagen arbeiteten. Dieser auch „Seasoning“ genannte Prozess der psychologischen und körperlichen Zurichtung sorgte für eine Auswahl, bei der man die Schwachen sterben ließ und die Starken an die Arbeit gewöhnte. Die Todesraten waren entsprechend hoch. Von 12,5 Millionen Menschen, die insgesamt aus Westafrika verschleppt wurden, kamen nur 10,7 Millionen Menschen am Bestimmungsort an. 1,8 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner kamen beim Transport ums Leben.

Von den 2,7 Millionen in die britische Karibik Entführten, überlebten nur 2,3 Millionen, eine Differenz von 450.000 Menschen.[8] Waren auf der Middle Passage bis zu 20 Prozent der Versklavten gestorben, kamen beim „Seasoning“ auf Kuba noch einmal 7 bis 12 Prozent Todesfälle hinzu. Auf Jamaika dauerte der Prozess länger und bis zu einem Drittel der zu Schwerstarbeit gezwungen Menschen verstarb dort innerhalb dreier Jahre.[9] Von der Sklavenarbeit direkt abhängig waren aber nicht nur die Plantagenbesitzer, sondern auch die Exporteure mit Sitz in Boston, New York und Philadelphia und die im Dreieckshandel mit Afrika involvierten britischen Kaufleute.

Der ökonomische Profit und der langfristige Erfolg der englischen Kolonien in Nordamerika und der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals in England hingen also direkt mit der Ausbeutung schwarzer Körper zusammen. Mit dem Verbot des Sklavenimports 1808 kam es zur vorwiegend internen biologischen Reproduktion der Sklaverei, da jedes Kind einer Sklavin automatisch auch versklavt wurde, egal ob der Vater schwarz oder weiß war. Bald waren die Plantagen bevölkert von Kindern in allen Hautschattierungen, klarer Hinweis auf die Häufigkeit außerehelicher sexueller Praktiken zwischen weißen Männern und unfreien afro-amerikanischen Frauen. Heutige DNA-Analysen bestätigen die engen Verwandtschaftsverhältnisse von Weißen und Afro-Amerikanerinnen. Es kann mit großer Sicherheit angenommen werden, dass diese Verwandtschaft nur in wenigen Fällen das Ergebnis freiwilliger sexueller Beziehungen gewesen ist.

Ich komme zu meinem zweiten Beispiel, der Eugenik. Die rassistischen Körperkonzepte der Sklavereiepoche behielten ihre Wirksamkeit auch nach dem Ende derselben in den USA im Jahre 1865. Dabei begannen sich versklavte Körper und die Körper des entstehenden weißen Proletariats anzugleichen, denn die Sklavenemanzipation fiel in die Zeit der Umwandlung der amerikanischen Wirtschaft von einer handwerklichen Produktionsweise zum Kapitalismus. Während zu Beginn des Industrialisierungsprozesses vor allem junge weiße Frauen aus den ländlichen Gebieten Massachusetts in den Textilfabriken arbeiteten, wurden diese im Laufe der Zeit immer mehr durch Einwandererinnen aus Südosteuropa, Italien und Asien ersetzt.

Tausende von Einwanderinnen und Einwanderern strömten jede Woche ins Land. Sie kamen zunächst aus England, Irland und Deutschland, später aus Italien, den östlichen Gebieten Österreichs oder aus Russland. Jüdinnen und Juden, Katholiken und Orthodoxe wanderten in ein weitgehend protestantisches Land ein. Die Frage, wer denn nun eigentlich Amerikaner bzw. Amerikanerin sei, wurde neu verhandelt und die Antwort auf diese Frage lag zu einem Gutteil in der Antwort auf die Frage, wer über einen weißen Körper verfügte.

Im Falle der befreiten ehemalig Versklavten war die Antwort einfach. Als Menschen, deren Vorfahren Afrikanerinnen und Afrikaner waren, waren sie per definitionem Nicht-Weiß. Sie waren am meisten vom Ideal des weißen Körpers entfernt. Auch unter den Bedingungen der neu erlangten Freiheit wurden ihre Körper weiter auf Plantagen ausgebeutet, von Organisationen wie dem Ku Klux Klan ausgepeitscht oder getötet, ihre Kinder von staatlichen Stellen entführt, um als Lehrlinge für einen Hungerlohn zu arbeiten. Sexualisierte Gewalt gegen afro-amerikanische Frauen war an der Tagesordnung.

Zwischen 1870 und 1933 wurden 4.000 African Americans gelyncht. Der Wert des schwarzen Körpers lag bei null, so lange er sich nicht widerspruchslos ausbeuten ließ. Rassismus, so hat George L. Mosse vor etlichen Jahren geschrieben, ist eine visuelle Ideologie, die auf Stereotypen aufbaut. Visuell bezieht sich auf den Körper: Das scheinbar Sichtbare wird hier zum Ausgangspunkt für die Einteilung der Menschen in höherwertig oder minderwertig, in diejenigen, die man leben macht und die man sterben lässt, um eine berühmte Formulierung Michel Foucaults zu bemühen.[10]

Mit diesem neuen Typus der Macht entstehen aber auch viele Dispositive, die uns sinnvoll erscheinen mögen. Die Einrichtung einer Medizin, deren Hauptaufgabe die öffentliche Hygiene ist, die Koordinierung der medizinischen Versorgung, die Aufklärungs-kampagnen der Bevölkerung in Sachen Gesundheitsfürsorge, die statistische Ermittlung der Geburten- und Sterberate, die Einrichtung von Unterstützungsmaßnahmen, der Fokus auf Schwangerschaften und die staatliche Fürsorge für Mütter, all das wird um 1870 Teil eines komplexen Ganzen, das wir Biopolitik nennen und das den Körper des Individuums und den Körper des Kollektivs in den Blick nahm. Nun unterlag der Körper nicht mehr nur dem oberflächlichen Blick des Zeitgenossen, der ihn in einer Schwarz/Weiß-Dichotomie einzuschätzen wusste, sondern er konnte angeblich wissenschaftlich vermessen, getestet und eingestuft werden. Intelligenz wurde messbar, Verhalten unter Laborbedingungen beobachtbar, Abweichungen von der Norm berechenbar und Unterschiede skalierbar. Neue Typen von Körpern entstanden, der hysterische Körper, der neuasthenische Körper, der jüdische Körper, der irische Körper und der Chicano/Chicana Body.[11]

Irische Einwanderer wurden in den USA lange nicht als Weiße angesehen. Die „Black Irish“ wurden als Untermenschen gesehen, auf eine Stufe gestellt mit Menschenaffen und mussten sich die Zugehörigkeit zum Club der Weißen in den folgenden Jahrzehnten erst erkämpfen. Karikaturisten wie Thomas Nast stellten sie in den nationalen Printmedien der USA als Trunkenbolde und Gewalttäter dar, deren Gesichtszüge denen von Primaten ähnelten. Cesare Lombrosos L’uomo delinquente, auf Englisch The Born Criminal, wurde zwar erst 1911 ins Englische übersetzt, doch sorgten Diskussionen in internationalen Journalen schon in den 1890er Jahren für eine rasche Verbreitung der Theorien zur biologische Kriminologie in den USA. [12]

Zeitgleich veröffentlichte Havelock Ellis eine Studie mit dem Titel „The Criminal“ in den USA, in der er zu zeigen versuchte, wie bestimmte physische Charakteristika von Menschen ihre Degeneration sichtbar und ihre Kriminalität vorhersehbar machte.[13] Damit wurden deviante Dispositionen im Körper von Menschen lesbar: Der kriminelle Körper, der deviante Körper wiesen angeblich Merkmale auf, die es leicht machten, Kriminelle und Deviante zu identifizieren. Da Devianz und Kriminalität in der Sicht der Kriminalbiologen biologisch determiniert waren, wurden sie auch von Generation zu Generation weitergegeben. Damit entstand die theoretische Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen oder antisozialem Verhalten in einer Familie vorauszusagen. Wenn man aber wusste, dass die Kinder bestimmter krimineller oder antisozialer Eltern ihrerseits auch zu abweichendem Verhalten neigen würden, was lag näher, als hier regulierend einzugreifen?

Eine neue Wissenschaft entstand am Ende des 19. Jahrhunderts, die Eugenik. Eugenik, deutsch auch Erbgesundheitslehre, bezeichnete die Anwendung theoretischer Konzepte bzw. der Erkenntnisse der Humangenetik auf die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik bzw. den Gen-Pool einer Population mit dem Ziel, den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen zu vergrößern (positive Eugenik) und den negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern (negative Eugenik). Der britische Anthropologe Francis Galton (1822–1911) prägte den Begriff bereits 1869.

Eugenische Betrachtungen waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitverbreitet und wurden lebhaft diskutiert. Zu den bekannten Vertretern dieser Ideologie gehörten der Biologe Charles Benedict Davenport, der während des NS eng mit deutschen Rassenhygienikern zusammenarbeitete, der Zellbiologe Harry H. Laughlin, der sich noch 1936 nicht scheute, die Ehrendoktorwürde der längst durch die Nazis „gleichgeschalteten“ Universität Heidelberg anzunehmen und die Sozialreformerin Margaret Sanger.

Federführend waren hier zwei Institutionen, das Eugenics Record Office in Cold Spring Harbor, New York, finanziert von Mary Williamson Averell, der Witwe des Eisenbahnmagnaten Edward Henry Harriman. Die zweite Institution war die 1928 gegründete Human Betterment Foundation, mit Sitz in Pasadena, California. Eugenische Standpunkte fanden in der Gesetzgebung einer Reihe von Industrieländern zu Immigration, Schulpolitik und zum Umgang mit Minderheiten ihren Niederschlag. Dabei wurde in klassischen Einwandererländern wie den USA, Kanada und Australien vor allem der Umgang mit Zuwanderern aus ethnischen Minderheiten unter eugenischen Gesichtspunkten betrachtet. Aber auch psychisch Kranke und den Standards der Zeit entsprechend sexuell promiske Frauen, Alkoholiker und sogenannte Berufskriminelle gerieten in den Sog eugenischer Maßnahmen. Der Bundesstaat Indiana führte die Zwangssterilisation schon 1907 ein, 28 Jahre vor den Nürnberger Rassegesetzen. Kalifornien und der Staat Washington folgten 1909.

Diese Gesetzentwürfe entstammten zu einem nicht unerheblichen Teil der Feder Harry H. Laughlins vom Eugenics Record Office. Ausgerechnet das liberale Kalifornien wurde zum Staat mit den meisten Sterilisationen. 80 Prozent dieser Eingriffe bis zum Jahr 1921 wurden hier vorgenommen. Erst nach dem zweiten Weltkrieg gingen die hohen Zahlen zurück. Zwischen 1909 und 1963 wurden 20.000 Sterilisationen durchgeführt. 1927 entschied der Oberste Gerichtshof der USA im Fall Buck v. Bell, dass bei Personen, die mit angeborenen Formen des Wahnsinns oder der Idiotie behaftet seien, es im besten Interesse des Patienten und der Gesellschaft liege, solche Personen zu sterilisieren. [14]

Nach diesem Urteil brachen alle Dämme. 20 Bundesstaaten erließen Sterilisationsgesetze und rund 60.000 Menschen – die meisten übrigens Frauen – wurden zwangssterilisiert. Man könnte ja annehmen, dass diese Körperpraktiken mit dem Ende der Naziherrschaft ein für alle Mal diskreditiert und erledigt seien. Leider ist es immer noch so, dass in den USA in 20 Bundesstaaten sogenannten „no procreation orders“ in Kraft sind, die vorbestraften Frauen Auflagen bezüglich ihrer Rechte auf biologische Reproduktion machen. Zu diesen Einschränkungen gehört auch die permanente oder temporäre Sterilisation dieser Frauen.[15] In den 1990er Jahren wurde der Bezug von Sozialhilfeleistungen bei Frauen an die temporäre Sterilisation mithilfe eines Hormonimplantats namens Norplant gebunden. Sie sehen, meine Damen und Herren, die Wirkung bestimmter Diskurse über körperliche Beschaffenheit zeigt bis heute materielle Wirkungen. Das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung kann eingeschränkt werden, wenn der Zustand eines individuellen Körpers mit dem Zustand des sogenannten Volkskörpers abgeglichen werden soll. Nach wie vor ist der menschliche Körper ein Schlachtfeld. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

  • [1]

    Frank Lewis Dyer und Thomas Commerford Martin: Edison: His Life and Inventions. Harper & Brothers: New York, 1910, Band 2, S. 607.

  • [2]

    Michel Foucault hatte 1975 in „Überwachen und Strafen“ festgestellt: „[Die Historiker] haben den Körper im Feld von historischer Demographie und Pathologie studiert. Sie haben ihn als Sitz von Bedürfnissen und Gelüsten, als Ort von physiologischen Prozessen und von Metabolismen, als Zielscheibe für die Angriffe von Mikroben und Viren untersucht. Sie haben gezeigt, bis zu welchem Grade die historischen Prozesse in das verwickelt waren, was als rein biologischer Sockel der Existenz gelten mochte und welcher Platz in der Geschichte der Gesellschaften biologischen ‚Ereignissen‘ wie der Ausbreitung von Bazillen oder der Verlängerung der Lebensdauer einzuräumen ist.“ (Foucault, 1975, S. 36 f.).

  • [3]

    Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, 2000, S. 119 f.

  • [4]

    Eitler, Pascal und Scheer, Monique. Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft, 35(2), 2009, S. 282-323, S. 284 f. Mauss, Marcel. Les techniques du corps. In: Journal de Psychologie Normale et Pathologique 32 (1935), S. 271-293.

  • [5]

    Sarasin, Phillip. Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001, S. 12.

  • [6]

    Ibidem, S. 16. Sarrasin paraphrasiert hier Foucault, der sich wieder auf Nietzsche beruft.

  • [7]

    Coughtry (1981).

  • [8]

    The Trans-Atlantic Slave Trade Database, URL:  http://www.slavevoyages.org/, gesehen 9.11.2017.

  • [9]

    Kiple, Kenneth F. The Caribbean Slave: A Biological History. Cambridge Cambridgeshire, New York: Cambridge University Press; 1984, S. 64 f.

  • [10]

    Michel Foucault. In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (1975-76).Frankfurt, Suhrkamp Verlag, 2001. Vorlesung vom 17. März 1976, S. 276-305, S. 278.

  • [11]

    Diesen hatte der Ethnograph John Gregory Bourke im „amerikanischen Kongo“ erblickt, womit er Mexiko meinte. Der Titel, der zur Beschreibung der Rückständigkeit und Passivität der Bewohner Mexikos gewählt wurde, koinzidierte mit dem wirklichen Kongo unter dem belgischen König Leopold II und erinnerte an die Kongogräuel, dem bis zu zehn Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Chicanos/Chicanas wurden somit in eine Reihe mit den Opfern des Kolonialismus gesetzt. John Gregory Bourke, The American Congo, n.p. 1894.

  • [12]

    Jastrow, J. “A Theory of Criminality.” Science, vol. 8, no. 178, 1886, pp. 20–22. [Anonymous]. “The American Journal of Psychology.” The American Journal of Psychology, vol. 3, no. 1, 1890, pp. 116–117.

  • [13]

    Havelock Ellis.

  • [14]

    Buck v. Bell, 274 U.S. 200, 206 (1927).

  • [15]

    Waters, Jessica L., In Whose Best Interest? New Jersey Division of Youth and Family Services v. V.M. and B.G. and the Next Wave of Court-Controlled Pregnancies in: Harvard Journal of Law and Gender 34 (November 11, 2010), S. 82-111, S. 89-92. Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=1707680