Meine Damen und Herren,
lieber Herr Kershaw,
Es gilt einen Historiker für deutsche Zeitgeschichte zu ehren. Ich wähle dafür einen Umweg.

Seit einiger Zeit grassiert ein Fieber in Deutschland. Es ist das Fieber der Straßenumbenennungen. Der Drang, Straßen umzubenennen, hat im letzten Jahr auch eine Stadt auf der – von Düsseldorf aus gesehen – anderen Seite des Rheins erreicht. Ich verschweige diskret den Namen dieser Stadt. Er tut im Grunde auch nichts zur Sache. Denn was dort geschehen ist, das ist während der letzten Jahre auch in vielen anderen deutschen Städten geschehen. In vielen Städten geschieht es immer noch. Und wohl auch in der Zukunft wird es hierzulande noch vielfach Wirbel um Straßennamen geben.

Denn es gibt viele Straßen, die benannt sind nach einem lokalen Politiker – nach einem Ortsvorsteher – vielleicht auch einem Künstler – oder sonst einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und dann fällt irgendjemandem auf, dass diese Persönlichkeit des öffentlichen Lebens seit 1933, oder seit 1937, auch Mitglied der NSDAP gewesen ist. Diese Entdeckung wird in die Öffentlichkeit kommuniziert: Die Leute beginnen darüber zu reden; die Lokalzeitung schreibt darüber; und spätestens, wenn auch die überlokale Presse darüber berichtet hat, wird die Angelegenheit ein Thema für die Lokalpolitik. Der Stadtrat tritt zusammen und berät, was nun zu tun ist.

Im konkreten Fall merkte ein Mitglied des Stadtrats an, dass wohl noch eine weitere Straße existiere, bei der dieses Problem ebenfalls gegeben sein könnte. Ein anderes Ratsmitglied schlug daraufhin vor, man solle doch am besten gleich alle Straßen umbenennen, die nach Mitgliedern der NSDAP benannt seien. Damit könne sozusagen „reiner Tisch“ gemacht, das Problem ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden. Das fand weitgehende Zustimmung. Das Stadtarchiv wurde beauftragt zu ermitteln, welche Straßen der Stadt nach NSDAP-Mitgliedern benannt seien. Nach einer Weile stand das Ergebnis fest: Es war mehr als die Hälfte aller Straßen der Stadt, die nach lokalen Würdenträgern aus dem frühen 20. Jahrhundert benannt waren. Und davon gab es sehr, sehr viele.

Die Geschichte ist symptomatisch dafür, wie in Deutschland heute oft mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus umgegangen wird: Wer Mitglied der NSDAP gewesen ist, dessen Name gehört nicht auf ein Straßenschild. Wann derjenige oder diejenige in die Partei eingetreten ist, spielt dabei keine Rolle. Was die Motive für den Parteieintritt waren, spielt keine Rolle. Wie diejenige oder derjenige sich dann in der NSDAP verhalten hat, oder wie vor 1933, oder wie nach 1945, ist ebenfalls nicht von Interesse. Denn wer in der NSDAP war, der war ja Nationalsozialist. Und wenn man in einer säkularen Werten verpflichteten Gesellschaft diese Leute auch nicht mehr in den untersten Kreisen der Hölle auf ewig schmoren lassen will, so will man sie doch der damnatio memoriae unterwerfen – der Verdammung ihres Andenkens. Schließlich war der Nationalsozialismus ja verantwortlich für das größte Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, vielleicht für das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte überhaupt. Das man diese nationalsozialistische Bewegung nicht mehr duldet, ist die logische Konsequenz daraus. Und dass man die Erinnerung an alle Menschen, die mit dieser Bewegung zu tun hatten, am liebsten von der Erde tilgen möchte, ist vielleicht auch nur allzu verständlich.

Bis man dann herausfindet, wie viele mit dieser Bewegung zu tun hatten: In jeder Stadt, in jeder Straße, in jedem Haus. Die Mehrheit der heute lebenden Deutschen hat zumindest einen Großvater oder Urgroßvater gehabt, der in der NSDAP gewesen ist. Und wo das wahrgenommen und thematisiert wird, herrscht dann häufig ein ganz anderer Umgang mit der NS-Vergangenheit vor. Wo es um persönlich Bekannte geht, oder um Familienangehörige, da wird nur noch selten pauschal verdammt, wird nicht mehr dämonisiert. Da wird stattdessen nach Motiven gesucht, nach Zwischentönen. Da wird betont, man müsse differenzieren. Dieses Bemühen um Differenzierung dient freilich in solchen Kontexten am Ende allzu oft der Apologie, der Entschuldigung. Eigentlich ist der Großvater immer schon dagegen gewesen. In die NSDAP ist er nur gegangen, um Schlimmeres zu verhüten.

Das ist ein deutsches Problem. Als solches ist es nichts Neues. Schon unmittelbar nach 1945 gab es dieses unverbundene Nebeneinander von öffentlicher Dämonisierung des Nationalsozialismus und privater Apologie. Dieses Nebeneinander hat dann eine Reihe von Metamorphosen durchlaufen – vor allem in den 1970er und 1980er Jahren, in denen der Nationalsozialismus als negativer Bezugspunkt ins Zentrum deutschen Geschichtsbewusstseins gerückt ist. Am grundsätzlichen Umgang der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit hat das aber nicht viel geändert. Immer noch, und immer wieder, wird der Nationalsozialismus als Kollektivsingular gern dämonisiert, gleichzeitig aber meist als etwas behandelt, das mit uns, und unserer individuellen Familiengeschichte, irgendwie nichts zu tun hatte. Ein deutsches Problem.

Wie aber kommt man als Brite dazu, sich mit einem solchen deutschen Problem zu beschäftigen? Denn das tut Ian Kershaw seit fast 40 Jahren. Tatsächlich tut er das als Wissenschaftler fast ausschließlich, fast möchte man sagen, obsessiv – ein Eindruck, der allerdings sehr schnell verfliegt, wenn man seine Bücher nicht nur bibliographiert, sondern auch in ihnen liest. 1980 veröffentlicht er ein Buch über Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, unter dem Titel „Der Hitler-Mythos“. Drei Jahre später folgt ein Buch zu „popular opionion und political dissent“ in Bayern zwischen 1933 und 1945. Dann eine Darstellung von Interpretationen und Kontroversen zum „NS-Staat“, die ich immer noch Studierenden warm ans Herz lege, obwohl sie mittlerweile ein Vierteljahrhundert alt ist. Einem breiteren Publikum bekannt geworden ist Ian Kershaw spätestens durch seine zweibändige, mehr als 2000 Seiten starke Hitler-Biographie. Seine vorläufig letzte größere Publikation war „Das Ende“, in der es um das letzte Jahr des nationalsozialistischen Deutschlands geht.

Wie also kommt man als Brite dazu, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen? Als jemand, der zwar 1943 geboren wird, aber im nordenglischen Lancashire, wo die Flugzeuge der deutschen Luftwaffe, die in den Jahren zuvor südenglische Städte wie Coventry fast vollständig und London zu großen Teilen zerstört haben, kaum hingekommen sind und nun gar nicht mehr hinkommen? Als Sohn katholischer Eltern, der auf eine katholische Schule geht? Der dann zwar einen Teil seines Studiums in Oxford absolviert, aber danach nur Rufe an Universitäten annimmt, die nördlich des River Trent liegen, und damit praktisch zeitlebens nördlich derjenigen Wasserscheide seine Zelte aufschlägt, die in Großbritannien dem entspricht, was man in Deutschland den Weißwurstäquator nennt? Jemand, der zwar Geschichte studiert, aber zunächst Mediävist wird, und seine Doktorarbeit über die mittelalterlichen Rechnungsbücher eines nordenglischen Klosters schreibt?

Es gibt eine Antwort auf diese Frage. Sie ist ein wenig apokryph, denn sie entstammt einem Quellentyp, von dem jeder Historiker weiß, dass er mit großer Vorsicht auszuwerten ist. Es handelt sich um Oral History – mündlich erzählte Geschichte. Aber immerhin ist die Quelle relativ zuverlässig. Denn die Quelle ist Ian Kershaw selbst. In einem Interview hat er vor drei Jahren erzählt, dass er 1972 in München in einem Café mit einem älteren Einheimischen ins Gespräch kam, der ihm dabei sagte: „Ihr Engländer wart so dumm. Wenn ihr euch im Zweiten Weltkrieg nur auf unsere Seite geschlagen hättet, dann hätten wir gemeinsam die Bolschewisten schlagen und die Erde beherrschen können.“ Dann fügte der alte Mann noch hinzu, die Juden seien „Ungeziefer“. Ian Kershaw, der ursprünglich nach Deutschland gekommen war, um über Bauern im Mittelalter zu arbeiten, war darüber so geschockt, dass er sich entschloss, auf deutsche Zeitgeschichte umzusatteln, und zunächst über die Einstellung „ganz gewöhnlicher Deutscher“ zum Nationalsozialismus zu forschen.

Über das Verhältnis der deutschen Bevölkerung zur NS-Ideologie gab es damals bereits einige landläufige Erklärungen. Diese Erklärungen werden auch heute immer noch und immer wieder vertreten, auch von professionellen Historikern. Gerade in Bezug auf Bayern, Kershaws zunächst primäres Untersuchungsgebiet, wurde und wird einerseits vielfach die Distanz der vorwiegend katholischen Bevölkerung dort zum Nationalsozialismus betont. Auf der anderen Seite standen und stehen Interpretationen, die gerade eine antisemitische Durchseuchung der Bevölkerung bereits vor 1933 sehen. Die nationalsozialistische Herrschaft habe dann nur die Möglichkeit gegeben, die schon weitverbreitete Judenfeindschaft auszuleben. Ian Kershaw hat diese holzschnittartigen Erklärungen beide abgelehnt. Er stellte fest, dass weder Hass noch heimliche Sympathien gegenüber Juden in der Bevölkerung überwogen, sondern Desinteresse und Indifferenz.

Dieser Befund war bahnbrechend. Möglich wurde das durch eine bei dem Thema selten anzutreffende Verbindung von kühler rationaler Distanz und emotionaler Einfühlung. Im Vorwort zu Popular Opinion and Political Dissent in the Third Reich heißt es: “I should like to think that had I been around at the time I would have been a convinced anti-Nazi engaged in the underground resistance fight. However, I know really that I would have been as confused and felt as helpless as most of the people I am writing about.”

So abgewogen und differenziert dieser Befund vorgetragen wurde, so wenig taugte er zur Apologie. Denn der Autor unterstrich gleichzeitig, dass Desinteresse und Indifferenz der Masse der deutschen Bevölkerung mitverantwortlich waren für den Massenmord am europäischen Judentum. Dafür gab zwar der antisemitische Hass der NS-Führung den Anstoß. Aber dass dieser Hass sich ausleben konnte, wurde durch die Indifferenz der Bevölkerungsmasse ermöglicht: „The road to Auschwitz was built by hate, but paved with indifference.“

Auf ähnliche Weise hat Ian Kershaw es immer wieder vermocht, die Geschichte des Nationalsozialismus auf differenzierte Art zu schreiben, ohne jemals in Apologie zu verfallen. Er hat immer wieder das Kunststück vollbracht, rationale und emotionale Geschichtsbetrachtung miteinander zu verbinden.

Ähnliche Kunststücke sind ihm auch in anderer Hinsicht gelungen. Biographie hat er als Strukturgeschichte geschrieben. Und nicht nur das: Er hat es auch geschafft, für seine Biographie Hitlers, in der er das auf über 2000 Seiten vorgemacht hat, ein Massenpublikum zu finden. Die im Dritten Reich wirkenden Mechanismen der Herrschaft hat er gleichermaßen inhaltlich komplex wie sprachlich einfach beschrieben. Wo deutsche Historiker in sperriger Begrifflichkeit von „kumulativer Radikalisierung“ reden, was nur weitere umfangreiche Erklärungen nötig macht, spricht Ian Kershaw vom Prinzip des „working towards Hitler“ – Hitler zuarbeiten, und kennzeichnet damit den Herrschaftsmechanismus des Dritten Reichs ebenso klar wie einfach.

Man muss nicht Brite sein, um das zu können. Aber man kann sich durchaus auch hierzulande ein Beispiel daran nehmen, wie Ian Kershaw sich seinem Gegenstand nähert: mit Leidenschaft und mit kritischer Distanz; mit narrativem Schwung, so dass man selbst den dicksten Wälzer nicht mehr aus der Hand legen möchte, und mit messerscharfer Analyse; klar und einfach in der Sprache, aber hochdifferenziert und komplex, was den Inhalt angeht. Für dieses Beispiel, das er uns gegeben hat, können wir ihm nur dankbar sein. Der Preis, den die Philosophische Fakultät und die Meyer-Struckmann-Stiftung ihm verleiht, soll ein kleines Zeichen dieser Dankbarkeit sein.

Prof. Dr. Christoph Nonn (geb. 1964)

2000/2001 Projektleiter des Zwangsarbeiterfonds der Jewish Claims Conference.
Seit 2002 Professor für Neueste Geschichte an der Universität Düsseldorf. Jüngste größere Publikation: Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013.