Sehr geehrter Herr Professor Kershaw,
sehr geehrter Herr Professor Kaiser,
sehr geehrter Dekan,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich im Namen der Heinrich-Heine-Universität zur diesjährigen Verleihung des Meyer-Struckmann-Preises, des bedeutendsten Wissenschaftspreises unserer Philosophischen Fakultät!

Ich bin wirklich sehr beeindruckt, wie viele Bürgerinnen und Bürger heute dem Ruf der Fakultät gefolgt sind. Das ist zunächst einmal ein Kompliment an Sie, Professor Kershaw. Das große Publikumsinteresse ist aber auch ein Kompliment an die Kommission, die Sie als Preisträger ausgewählt hat.

Mit Sir Ian Kershaw wird heute ein Historiker ausgezeichnet, der auch in der Öffentlichkeit eine besondere Wirkung entfaltet. Sie sind Autor zahlreicher Bestseller und haben sich insbesondere mit dem schwierigen Thema „Deutschland im Nationalsozialismus“ beschäftigt. Über dieses Thema wird ja nach wie vor viel geschrieben. Man kann sich daher fragen, wieso Ihre Bücher einen besonders großen öffentlichen Impact haben. Da ich kein Fachmann bin, fehlt mir das kritische Vermögen, um die hohe wissenschaftliche Qualität Ihrer Werke selbst zu beurteilen. Als Leser Ihrer Bücher stelle ich aber fest, dass Sie die Fähigkeit besitzen, geschichtliche Zusammenhänge fesselnd darzustellen. Neben diesem erzählerischen Talent ist vermutlich ein weiteres Geheimnis Ihres Erfolges, dass Sie einen besonderen ‚Blick von außen‘ auf Deutschland und seine Geschichte werfen. Sie haben damit eine distanzierte Perspektive, die viele von uns hier im Raum – als Kinder oder Enkelkinder derer, die Täter oder Opfer im Nationalsozialismus waren – nicht haben.

Um zu illustrieren und plausibel zu machen, wie Distanz die eigene Perspektive erweitern kann, möchte ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, gerne zwei persönliche Anekdoten erzählen.

Vor rund 30 Jahren kam ich als junger Professor von Göttingen an die Universität Düsseldorf. Kurz nach Aufnahme meiner Tätigkeit an der Universität Düsseldorf hat mich ein älterer, sehr berühmter Professor nach Oxford eingeladen. Dieser Kollege war außerordentlich höflich. Zum Abschied am Abend fragte er mich: „Sie sind jetzt in Düsseldorf? Wie sieht es denn dort eigentlich aus?“ Ich war ein bisschen verblüfft über diese Frage. Er sagte dann: „Wissen Sie, ich kann mir nicht vorstellen, wie es dort aussieht. Ich gehörte zu den ersten britischen Truppen, die im Juni 1945 Düsseldorf von den US-amerikanischen Truppen als Besatzungszone übernommen haben und an den Rheinwiesen entlang marschiert sind. Ich habe diese zerstörte Stadt gesehen und habe mir nicht vorstellen können, dass man diese Stadt wieder aufbauen kann.“ Ich habe mich damals gefragt, warum ich Düsseldorf nicht als großenteils neu erbaute Stadt wahrgenommen habe. Natürlich hatte es etwas damit zu tun, das ich ein Nachkriegskind bin und damit daran gewöhnt war, dass sich Gebäudelücken wieder schließen. Die besondere Aufbauleistung dieser Stadt ist mir erst durch diesen ‚Blick von außen‘ klar geworden.

Ein weiteres persönliches Beispiel mit Blick auf unsere zeitgeschichtliche Vergangenheit hatte ich bei einer Diskussion mit unseren Studierenden der „European Studies“. Dabei handelt es sich – wie viele von Ihnen wissen – um eine ganz besondere Kohorte, da sie beinahe ausschließlich aus israelischen, palästinensischen und jordanischen Studierenden besteht. In diesem Gespräch haben diese Studierenden, die auch über einen ‚Blick von außen‘ verfügen, das vermeintlich ‚alte Europa‘ aus ihrer regionalen Nahostperspektive beurteilt. Für sie stellt sich dieses Europa, das viele Europäer und auch Bundesbürger mittlerweile skeptisch sehen, als sehr erfolgreiches Experiment, als historisch sensationelles Erfolgsprojekt dar. Nur ein geringer Teil unserer deutschen Studierenden würde vermutlich die ‚Werdung‘ unseres Europas mit gleicher Emphase wertschätzen. Denn für sie ist ein friedliches Europa Gegenstand der Alltagserfahrung.

Meine beiden persönlichen Erlebnisse legen für mich den Schluss nahe, dass der ‚Blick von außen‘ uns neue Sichtweisen ermöglicht. Bücher aus der Feder unseres Preisträgers Sir Ian Kershaw sind vermutlich daher auch deshalb so interessant und attraktiv, weil sie uns mit ihrem Blick einen anderen, einen neuen Zugang zu unserer Vergangenheit vermitteln – und damit auch unsere Wahrnehmung der Gegenwart verändern.

Sir Ian Kershaw, Sie sind bereits ein gefeierter Historiker – heute haben wir das Privileg, Sie zu feiern! Wir freuen uns sehr, dass Sie heute hier sind.

Prof. Dr. Dr. H. Michael Piper (geb. 1952)

1979 Dr. med., 1980 Dr. phil., 1985 für das Fach Physiologie habilitiert. 1985–1994 Professur für Physiologie an der Universität Düsseldorf, 1994–2008 an der Universität Gießen.
Seit November 2008 Rektor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.