Magnifizenz, Spectabilis,
sehr geehrter Herr Professor Kaiser,
sehr geehrter Herr Professor Nonn,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
dass Sie mir den Meyer-Struckmann-Preis heute Abend verleihen, ist mir eine große und ganz besondere Ehre. Ich freue mich außerordentlich über diese Auszeichnung und möchte mich dafür von Herzen bedanken. Ich danke der Meyer-Struckmann-Stiftung für ihre überdimensionale Großzügigkeit, der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf, den Mitgliedern der Jury, Herrn Prof. Dr. Nonn für seine glänzende Laudatio und nicht zuletzt Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass Sie heute Abend gekommen sind. Ich weiß diese Anerkennung meiner langjährigen Beschäftigung mit der deutschen Zeitgeschichte sehr zu schätzen. Ganz herzlichen Dank dafür!

Eine Frage bedarf aber vielleicht noch einer Antwort. Warum beschäftigt sich ein Engländer, der zuvor weder familiäre noch sonstige Beziehungen zu Deutschland hatte, seit so vielen Jahren mit der deutschen Geschichte, zumal mit dem dunkelsten, schlimmsten Zeitalter in der Geschichte dieses Landes. Hatte er nichts Besseres in seinem Leben zu tun? Gab es nicht andere, attraktivere, erfreulichere historische Themen, worüber er hätte forschen und schreiben können? Ja, freilich, lautet eine Antwort auf diese letzte Frage. Ich fing ja selber als Mediävist an und hätte mich eventuell auf die Blütezeit der mittelalterlichen Kultur oder die Anfänge der Renaissance konzentrieren können, obwohl ich zugeben muss, dass ich schon damals einen besonderen Hang zu Katastrophengeschichten – zur Geschichte von Hungersnot und schwarzer Pest – hatte. Ich wechselte also erst nach einigen Jahren als Hochschullehrer von der englischen mittelalterlichen Geschichte in die deutsche Zeitgeschichte. Warum? Eine kurze Antwort: Fast jedes historische Thema ist in der Tat erfreulicher als die Geschichte der NS-Zeit; aber kaum ein historisches Thema ist wichtiger – und wichtiger nicht nur für Deutschland selbst, sondern auch für ganz Europa und weit darüber hinaus.

Der lange Schatten der NS-Vergangenheit hat die Nachkriegswelt bis in die Gegenwart hinein maßgeblich beeinflusst. Der Nationalsozialismus hat als Verhängnis und Menetekel für spätere Generationen die dunkle Seite der Moderne, die äußersten Grenzen der Unmenschlichkeit und das dünne Eis der Zivilisation unverkennbar enthüllt. Wir sind von dem Zeitpunkt nicht weit entfernt, an dem keine Zeitzeugen der NS-Zeit noch am Leben sein werden. Mit dem Lauf der Zeit wird der Nationalsozialismus selbst allmählich zu einem Stück Geschichte. Bis zu einer echten ‚Historisierung’, d.h. zu einer Betrachtung der NS-Zeit als ‚nur’ Geschichte, analog zur Reformation, zum Dreißigjährigen Krieg oder zur Französischen Revolution, wird es aber noch lange dauern. Die moralische Hinterlassenschaft ist zu schwerwiegend dafür. In Deutschland selbst ist das Erbe des Nationalsozialismus heute noch politisch, gesellschaftlich und kulturell unübersehbar. Die Gesellschaft kämpft noch mit der vielschichtigen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Das moralische Problem der Verantwortung geht weit über die Kreise der eigentlichen Täter hinaus, während die Familien der Opfer in aller Welt zerstreut sind und ihre sehr verständliche emotionale Beschäftigung mit dieser Zeit natürlich nicht aufgeben. Die historische, weltweite Bedeutung des Nationalsozialismus ist Grund genug, selbst für einen nichtdeutschen Historiker, sich jahrzentelang mit der NS-Zeit intensiv zu befassen.

Blickt man auf den Verlauf des 20. Jahrhunderts in ganz Europa, dann ist die Zentralität Deutschlands, nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus, unverkennbar. Deutschland ist zentral gewesen in beiden Weltkriegen, beim Holocaust, im Kalten Krieg, bei der Gründung und späteren Entwicklung der Europäischen Union, beim Ende des Kalten Krieges, bei der Schaffung einer neuartigen Währungsunion und schließlich, in unserer Gegenwart, nach dem Bankdesaster 2008 bei der Rettung des Euro und der wirtschaftlichen Sanierung der Eurozone. Das 20. Jahrhundert als ‚das deutsche Jahrhundert’ zu bezeichnen würde zu weit gehen. Es würde zu kurz greifen, wollte man die Komplexität des 20. Jahrhunderts auf die Geschichte und das schicksalhafte Wirken einer einzigen Nation reduzieren. Dennoch stand Deutschland, manchmal zum Besseren, aber oft zum Schlimmeren, immer im Zentrum des Geschehens. Der Begriff des ‚deutschen Sonderwegs’, der sich hauptsächlich auf die angeblichen Besonderheiten, die zu Hitler führten, angelegt war, ist mittlerweile in Verruf gekommen, obwohl ich selbst eine moderierte Form des Begriffs noch für anwendbar halte. Ich vermeide deswegen bewusst den Terminus ‚Sonderweg’, spreche aber trotzdem von einer spezifisch deutschen Entwicklung vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart hinein. Diese Entwicklung führte von der ‚Urkatastrophe’ des Ersten Weltkrieges zur endgültigen Katastrophe am Ende des Zweiten Weltkrieges, zur Teilung des Landes und zur Stellung Deutschlands als Drehscheibe des Kalten Krieges, schließlich zur wiederhergestellten nationalen Einheit und zur ungewollt führenden Rolle im neuen Europa. Und im Laufe dieser Entwicklung hat sich Deutschland von dem am stärksten nationalistischen, chauvinistischen und international aggressiven Land in das wohl am stärksten europafreundliche, nicht-chauvinistische, weitgehend pazifistische Land Europas, und von einer Diktatur – ja sogar zwei Diktaturen – in den Eckstein der europäischen Demokratie verwandelt. Da ist Stoff genug, um einen Historiker für mehr als eine Karriere zu beschäftigen.

Der Nationalsozialismus, der das Hauptanliegen meiner langjährigen Beschäftigung mit der deutschen Geschichte gewesen ist, war der Angelpunkt des ganzen Geschehens. Er konnte bei Hitlers Triumph 1933 auf Stränge der Kontinuität in sozialen Strukturen sowie in der politischen Kultur bauen, die trotz der Niederlage, Revolution und Etablierung einer Demokratie am Ende des Ersten Weltkriegs aufrechterhalten blieben und sogar durch die Erfahrung von Krieg und Revolution erheblich verstärkt wurden. Das Ende des Hitler-Regimes und der totale Bankrott des Nationalsozialismus 1945 markierten dann einen fundamentalen Bruch mit diesen Kontinuitäten und die allmähliche Öffnung zu einer neuen ‚Wertegemeinschaft’, die in wesentlichen Aspekten auf einer gänzlichen Ablehnung der Werte des Nationalsozialismus basierte. Die Tiefe des nicht nur politischen, sondern auch des moralischen Zusammenbruchs 1945 und die radikale Verwerfung der NS-Werte danach – viel radikaler als der Bruch mit der Vergangenheit in z. B. Japan, Italien oder Russland – deuten schon auf etwas vom Wesen her Einzigartigem im Nationalsozialismus hin. War er in der Tat einzigartig? Und worin, wenn überhaupt, bestand eine solche Einzigartigkeit?

Der Nationalsozialismus ist in der Forschung vielfach mit anderen politischen Bewegungen und Regimen verglichen worden. Solche Vergleiche, die den NS meistens als eine Erscheinungsform des Faschismus oder des Totalitarismus einstufen, bleiben aber meistens auf einer ziemlich abstrakten und oft oberflächlichen Ebene, ohne auf die eigentliche Wirkung von den verschiedenen Systemen empirisch einzugehen. Abstrakt betrachtet, kann der Nationalsozialismus ja sowohl als Faschismus als auch als Totalitarismus verstanden werden, vorausgesetzt man ist bereit, die begrifflichen Schwierigkeiten mit beiden Termini in Kauf zu nehmen. Wenn man aber versucht, etwas näher in die Wirkung von anscheinend ähnlichen Bewegungen und Systemen hineinzuschauen, werden bedeutende Unterschiede unübersehbar. Aus dem Vergleich wird eben das Singuläre erst deutlich.

Gegen Ende der 30er Jahre existierten nur noch elf Demokratien in Europa, alle in Ländern, die entweder siegreich oder neutral aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren. Demgegenüber lebten die Völker von 16 Ländern – die Mehrzahl der Europäer – unter irgendeinem autoritären Regime. Diese autoritären Systeme waren verschiedenartig. Alle waren repressiv. Alle verfügten über mächtige polizeiliche Unterdrückungsapparate. Die meisten stellten aber keine großen Ansprüche an die jeweiligen Staatsbürger, außer dass sie sich staatsloyal verhielten. Eher die Bändigung der Opposition als die Mobilisierung der Bevölkerung reichte als Ziel aus. Und sie hatten keine expansionistischen Ambitionen außer in einigen Fällen Revision der 1919 festgesetzten Grenzen. Drei Regime – der italienische Faschismus, der Stalinismus in der Sowjetunion und der deutsche Nationalsozialismus – ragten aber selbst in den Augen von Zeitgenossen heraus. Diese ‚dynamischen’ Diktaturen teilten einige strukturelle Charakeristiken. Sie waren aber in wesentlichen Zügen grundverschieden.

Alle Drei waren insofern ‚totalitär’, als sie zumindest den Anspruch stellten, die jeweilige Bevölkerung total zu beherrschen und zu mobilisieren – nicht nur den Körper, sondern auch die Seele, sozusagen, für ihre Ziele zu gewinnen. In der Praxis war der totale Anspruch nicht realisierbar, am allerwenigsten im faschistischen Italien – paradoxerweise, das einzige Regime, das öffentlich den Aufbau eines ‚totalitären Staates’ proklamiert hatte. Die Durchdringung der jeweiligen Gesellschaft mit den ideologischen Werten des Regimes und das Ausmaß der populären Unterstützung für das System war, soweit man es überhaupt ermessen kann, am geringsten in Italien, am größten in Deutschland. Die Bevölkerung der Sowjetunion war die am stärksten von der eigenen Regierung terrorisierte, was auf einen großen Mangel an authentischer Unterstützung hindeutet.

Alle drei Regime waren gegenüber Gegnern – echten oder vermeintlichen – selbstverständlich höchst repressiv. Vor allem die Sowjetunion übte ein unglaubliches Ausmaß an Terror aus – und beinahe exklusiv gegen die eigene Bevölkerung. Bis 1939 waren etwa 3 Millionen sowjetische Bürger in Gefängnissen und Arbeitslagern ums Leben gekommen, weitere 700.000 wurden bei den stalinistischen Säuberungen erschossen. Das Ausmaß an Terror lässt sich kaum gleichsetzen mit dem Terror gegen die mehrheitlich einheimische Bevölkerung in Italien, der verhältnismäßig eigentlich relativ milde war, oder im NS-Deutschland in der Vorkriegszeit. Der stalinistische Terror wurde außerdem mit einer Willkür durchgesetzt, die ihresgleichen in Italien oder Deutschland suchte. In Italien wurde, nachdem die frühe heftige, offene Gewalt vor allem gegen die Linke nachgelassen hatte, der Terror hauptsächlich für die Kolonialvölker in Afrika reserviert. Die eingeschüchterte Opposition im Lande selbst wurde eher gebändigt als großem Terror ausgesetzt. Der schreckliche Nazi-Terror in Deutschland vor dem Krieg war ebenfalls eher gezielt – zuerst auf die Unterdrückung von politischen Gegnern und zunehmend auf Juden und andere sogenannte ‚Rassenfeinde’ und ‚Gemeinschaftsfremde’ fokussiert.

Unter den drei Regimen war Italien das ideologisch und militärisch schwächste. Die Mobilisierung der Gesellschaft dort gelang nur oberflächlich. Die italienischen Streitkräfte waren höchstens für Kolonialkriege gerüstet, und die imperialistischen Ziele des Regimes waren in der Tat hauptsächlich ein Ausguss von atavistischem Kolonialismus mit modernen Mitteln. Die ideologische Triebkraft des stalinistischen Regimes und die daraus hervorgehende Mobilisierung der Bevölkerung waren im Gegensatz dazu sehr stark, die Militarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft trotz der massiven Säuberungen weit vorangeschritten. Dennoch, im Vergleich mit beiden anderen Systemen ragt die ideologische Dynamik des NS-Regimes heraus. Hitler selbst spielte eine unersetzliche Rolle dabei. Seine eigenen ideologischen Obsessionen drückten sich in Aktionsrichtungen aus, die von allen Organen des Regimes allmählich in konkrete Zielsetzungen übertragen und schließlich in Taten umgesetzt wurden. Am wichtigsten unter diesen Organen war die SS, die ideologisch dynamischste Organisation im NS-Staat und der Hauptvertreter der ideologischen Ziele. Weder in Italien noch in der Sowjetunion, wo die NKVD zwar ein unglaublich brutales und rücksichtsloses Terrorisierungsorgan war, aber keine ideologische Elite bildete, die polizeiliche Funktionen mit weltanschaulichen Herrschaftszielen verband, gab es etwas Ähnliches. Die tatsächliche Verbindung von äußerst scharf fokussierter Verfolgung von gezielten internen ‚Feinden’, vor allem Juden, die gleichzeitig als internationale Erzfeinde betrachtet wurden, mit der rapide voranschreitenden Aufrüstung und Militarisierung der Gesellschaft auf einen imperialistischen Angriffskrieg hin, mit dem Fernziel, Herrschaft über ein nach rassistischen Kriterien gesäubertes Europa zu errichten, war, vergleicht man den Nationalsozialismus mit anderen grausamen Herrschaftssystemen, singulär. Dass diese zwei weltanschaulichen Anliegen als historische ‚Sendung’ von der höchsten Stelle des Staates, von Hitler selbst, betrachtet wurden, gehört ebenfalls zu den Besonderheiten des Nationalsozialismus. Und die Umsetzung der ideologischen Fernziele in Taten geschah sogar bei der für die damalige Zeit höchst modernen Bürokratie, bei der produktivsten Wirtschaft und der wohl effizientesten militärischen Führung Europas. Kurzum: Stalin war in diesem Stadium vor dem Krieg eine Gefahr hauptsächlich für seine eigene Bevölkerung, Mussolini für die unterjochten Völker in den italienischen Kolonien, Hitler für deutsche Juden – aber darüber hinaus für den Frieden Europas.

Das Einzigartige an dem Wesen des Nationalsozialismus wurde erst im Krieg völlig deutlich. Es war die Verschmelzung von zwei eigentlich trennbaren Zielen: Sowohl die Eroberung von neuen Territorien um eine hegemoniale Weltmachtstellung zu erreichen, als auch eine systematische rassische ‚Säuberung’, wie es die NS-Führung definierte, in ganz Europa durchzuführen. Im imperialistischen Zeitalter war die Eroberung von Kolonialgebieten selbstverständlich an sich keine Besonderheit. Aber Deutschlands erwünschte Kolonien befanden sich in Europa selbst, sogar in den am stärksten ethnisch gemischten Gebieten. Der Rassismus allein war ebenfalls keine Besonderheit. Er war in allen europäischen Ländern vorhanden, in Osteuropa ganz besonders. Unzählige Kollaborateure aus den okkupierten Gebieten im Osten haben bekanntlich an der Ermordung der Juden kräftig mitgemacht. Aber die Fähigkeit, ein systematisches Programm zu einem europaweiten Genozid bürokratisch zu organisieren und mit industriellen Methoden durchzuführen, oder einen Plan für eine kaum vorstellbare, kolossale ‚ethnische Säuberung’ im Osten, wie in dem Generalplan-Ost dargelegt, auszuarbeiten, und all dies mit der hegemonialen Absicht zu verbinden, den ganzen Kontinent zu beherrschen: Das war eine deutsche Spezialität.

Genau diese schreckliche Geschichte hat aber wesentlich dazu beigetragen, dass Deutschland über die darauffolgenden Jahrzehnte eine beneidenswerte Entwicklung durchgemacht hat, die trotz vieler Steine im Weg schließlich zur heutigen liberalen, demokratischen Gesellschaft geführt hat. Wir leben alle mit unserer Geschichte. Die Geschichte meines Landes hat weitgehend bestimmt, dass so viele Antipathien Europa gegenüber, die zwar durch die jetzige Wirtschaftskrise verstärkt, nicht aber dadurch primär verursacht wurden, heute noch eine kräftige Breitenwirkung bei der Bevölkerung haben. Demgegenüber hat die Lehre aus dem hypertrophierten Nationalismus und den Verbrechen des Nationalsozialismus hierzulande die Entwicklung maßgeblich beeinflusst, bei der Deutschland zur treibenden Kraft einer nationalstaatliche Belange transzendierenden europäischen Einheit geworden ist. Dass dieses neue Europa, trotz Mängeln, Defiziten und Rückschlägen, trotz Krisen, trotz auch mancher berechtigter Bedenken über politische und wirtschaftliche Strukturen, auf der Basis von Frieden und Demokratie nun feststeht, bedeutet ohnehin einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem Europa vor 70 Jahren.

Man kann aus der Geschichte lernen, meine Damen und Herren, erst recht aus der deutschen Geschichte. Auch für Ausländer lohnt sich immer wieder die Beschäftigung mit dieser Geschichte.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!