Sehr geehrte Frau Professorin Wolf,
Sehr geehrte Frau Pro-Rektorin, sehr geehrter Herr Dekan, sehr geehrter Herr Altrektor Kaiser,
liebe Gäste und Freunde der Heinrich-Heine-Universität,

in der Praktischen Philosophie, der der Meyer-Struckmann-Preis in diesem Jahr gewidmet ist, lassen sich verschiedene Verengungen der Perspektiven beobachten. Einige Philosophen nähern sich ihrem Gegenstandsbereich mit einem ausschließlich historisch geprägten Interesse. Sie verschreiben ihre Forschungsarbeit einer bestimmten geistesgeschichtlichen Epoche oder einem einzelnen Denker, den sie besonders wertschätzen. Nicht selten verfügen sie über erstaunliche Kenntnisse ihres Lieblingsphilosophen, die neben entlegenen Werkstellen auch biographische Details wie Reiserouten oder diätische Eigenarten umfasst. Im scharfen Gegensatz hierzu steht der analytische Denker, der sich um einen systematischen Zugang zur Praktischen Philosophie bemüht. Sein Interesse richtet sich ausschließlich auf Probleme, denen er eine besondere theoretische oder auch gesellschaftliche Relevanz zuspricht. Die Geschichte der Philosophie gilt ihm nur als eine Art Steinbruch, aus dem er nach Bedarf einzelne Argumente herausbricht und – unbesorgt um ihren Entstehungskontext – für seine Belange einsetzt. Beide Parteien begegnen sich selbstverständlich mit großer Skepsis, die oftmals mit wechselseitiger Geringschätzung einhergeht. Die Vertreter eines historischen Ansatzes werden als Anekdotensammler wahrgenommen, denen es an einem tiefer greifenden Problemverständnis mangelt. Umgekehrt sehen sich analytisch ausgerichtete Philosophen dem Vorwurf ausgesetzt, die Klassiker nicht zu kennen. Betreiben sie gar Angewandte Ethik und nehmen zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten Stellung, geraten sie zudem leicht in Verdacht, unter dem Deckmantel der Philosophie politische Ziele zu verfolgen.

Das Werk der diesjährigen Trägerin des Meyer-Struckmann-Preises ist über diesen – freilich etwas karikierend dargestellten – Streit erhaben. Die Arbeiten von Ursula Wolf decken den Gegenstandsbereich der Praktischen Philosophie in einer beeindruckenden historischen wie auch systematischen Breite ab. Sie ist nicht nur eine ausgezeichnete Kennerin der antiken Ethik, die bedeutende Schriften zur Tugendlehre Platons und Aristoteles vorgelegt hat. Ihre Publikationen zeichnen sich überdies – in ihrem gesamten Themenspektrum – durch große analytische Klarheit aus. In einer eleganten und unprätentiösen Sprache, der es nie um den Effekt geht, gelingt es ihr mühelos, dem Leser auch schwierige theoretische Probleme zu vermitteln. Neben der Reputation, die sich Ursula Wolf in der antiken Philosophie erworben hat, darf sie auch als eine der wichtigsten Stimmen in der modernen Tierethik gelten. Unser Umgang mit anderen Spezies wirft in vielen Bereichen – man denke nur an die Tierversuche der medizinisch-pharmazeutischen Forschung – drängende ethische Fragen auf. In den Arbeiten von Ursula Wolf ist das Engagement der Tierschützerin immer dem Berufsethos der Philosophin, d. h. der rationalen Argumentation, untergeordnet. Ihre Position ist mit großer Sorgfalt begründet und schöpft – darauf komme ich später noch zurück – in sehr fruchtbarer Weise aus der philosophischen Tradition.

Ursula Wolf hat nach dem Besuch eines Humanistischen Gymnasiums Philosophie und Klassische Philologie in Heidelberg, Oxford und Konstanz studiert. Die frühe Bekanntschaft mit der altgriechischen Sprache dürfte den Grundstein für die fortgesetzte Beschäftigung mit der antiken Ethik gelegt haben. Die Promotion erfolgte 1978 in Heidelberg mit einer Arbeit zu dem Thema „Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute“. 1983 schloss sich dann die Habilitation an der Freien Universität Berlin an, die im Folgejahr unter dem Titel „Das Problem des moralischen Sollens“ veröffentlicht wurde. Eine besondere Erwähnung verdient hier Ernst Tugendhat, bei dem Ursula Wolf in dieser Zeit eine Assistentenstelle bekleidet hat. Die Zusammenarbeit mündete nicht nur in einer gemeinsamen Publikation, der „Logisch-Semantischen Propädeutik“ von 1983. Der Einfluss Tugendhats bleibt auch in späteren Werken der Preisträgerin spürbar, in denen seinen Überlegungen als Inspiration und – nach meinem Eindruck – zunehmend auch als Reibungsfläche dienen. Die Forschungs- und Lehrtätigkeit Ursula Wolfs hat sich im Wesentlichen auf zwei Orte konzentriert. Zunächst zu nennen ist die Freie Universität Berlin, die sie bereits 1984, also in beneidenswert jungen Jahren, zur Professorin ernannte. Der FU gehörte sie – unterbrochen nur von einem kurzen Ausflug nach Frankfurt – bis 1998 an. Der zweite wichtige Ort ist die Universität Mannheim, die sie in eben diesem Jahr auf den Lehrstuhl für Philosophie berief, den sie bis heute innehat. In die Mannheimer Zeit fiel auch das Opus Magnum-Stipendium, das die Volkswagen-Stiftung in Anerkennung der herausragenden Forschungsleistungen von Ursula Wolf von 2006 bis 2008 bewilligt hat.

Das Interesse an der antiken Philosophie kann durch die erwähnten biographischen Bezüge aber nur unzureichend erklärt werden. Eine wichtige Motivation für die Beschäftigung mit den Tugendethiken des alten Griechenlands liegt – wenn ich recht sehe – in einem Krisenbefund des Faches. In der modernen Praktischen Philosophie ist eine Frage, die für Platon und Aristoteles noch im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stand, weitgehend aus dem Blick geraten. Spätestens seit dem Beginn der Aufklärung sieht die Moralphilosophie die Begründung von Sollens-Vorschriften als ihre primäre Aufgabe an. Der Begriff der Pflicht hat sich zu einer grundlegenden Kategorie entwickelt, die das moderne moralische Denken maßgeblich bestimmt.

Nicht nur die kantische Moralphilosophie, der man eine besondere Obsession für das Pflichtgemäße konstatieren darf, auch der Utilitarismus als konsequenzialistischer Gegenpart versucht in erster Linie, Handlungsgebote und –verbote zu begründen.

Damit einher geht aber die Vernachlässigung einer Frage, die für die Denker der griechischen Antike zentral war. Im Blickpunkt der Überlegungen, die Platon und Aristoteles – aber natürlich auch Epikur sowie die Anhänger der Stoa – angestellt haben, stand immer die Suche nach dem guten Leben. „Gut“ bedeutet hier nicht nur und nicht einmal primär, sich ethisch richtig gegenüber anderen Menschen zu verhalten; „gut“ bezeichnet vielmehr das gelungene Leben, das Glück und Wohlbefinden der Person als Ganzes. Aus Sicht der antiken Klassiker verkörpern soziale Tugenden, wie Gerechtigkeit oder Freigiebigkeit, zwar einen integralen Bestandteil des guten Lebens, aber sie sind eben auch nur ein Aspekt. Insofern greift eine Ethik, der es nur um die Erfüllung von Pflichten geht und die für andere Facetten der menschlichen Existenz blind ist, zu kurz.

Ein wichtiges Anliegen von Ursula Wolf ist es, die Frage nach dem guten Leben wieder in das Zentrum des philosophischen Denkens zu rücken. Mit der Rückbesinnung auf die antike Ethik steht sie – gerade wenn man die internationale Diskussion betrachtet – keineswegs allein. Nicht von ungefähr spricht man heute, etwa mit Blick auf Philippa Foot, Alasdair MacIntyre oder Martha Nussbaum, von einer Renaissance der Tugendethik. Hervorheben möchte ich hier insbesondere zwei Werke der Preisträgerin, die in einer engen thematischen Beziehung zueinander stehen. Zum einen „Die Suche nach dem guten Leben“ aus dem Jahre 1996, das sich den frühen Dialogen Platons widmet. Dieses Werk endet mit der Einsicht, dass die Überlegungen Platons noch nicht alle Facetten des guten Lebens zufriedenstellend erfassen. Das im Schlusssatz angedeutete Projekt – ich zitiere – „die einzelnen Phasen der Geschichte durchzugehen und solche existenziellen Grunderfahrungen zu sammeln, in denen Aspekte der Frage nach dem guten Leben explizit werden“, realisiert Ursula Wolf nur kurze Zeit später (Wolf 1996: 175).

In dem Buch „Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben“ aus dem Jahre 1999 erweitert sie die Untersuchung in zweifacher Hinsicht über die Grenzen der antiken Ethik hinaus. Zum einen befasst sie sich mit der Bedeutung, die der Metaphysik als Versuch zukommt, die unvermeidlichen Widersprüche und Spannungen des Lebens aufzulösen. Zum anderen bezieht sie die Existenzphilosophie, die ausgehend von menschlichen Grenzerfahrungen radikale Sinnfragen formuliert, in die Analyse ein. Selbstverständlich zielt die Arbeit nicht darauf ab, konkrete Ratschläge oder Empfehlungen für die Lebensgestaltung zu erteilen. Es wäre also verfehlt, sich in der Erwartung, nun endlich das Rezept für sein individuelles Glück zu finden, auf das Buch zu stürzen. Das Werk schließt vielmehr mit einer Standortbestimmung des Faches, die die Frage nach dem guten Leben als zentralen Gegenstand der philosophischen Reflexion ausweist.

Während die Antike Ethik nur der Erinnerung und Rehabilitierung bedurfte, musste der Themenbereich der Tierethik neu konstituiert werden. Lange Zeit sind nichtmenschliche Spezies mit großer Selbstverständlichkeit aus der Moralphilosophie ausgeschlossen geblieben. Die vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen von tierischen Lebewesen hat vielfältige ideengeschichtliche Ursachen. In unserem Kulturkreis kommt zweifellos dem Einfluss der christlichen Weltanschauung eine maßgebliche Bedeutung zu. Wenn der Mensch als Krone der Schöpfung betrachtet und mit dem Auftrag, sich ebendiese untertan zu machen, versehen wird, kann sein Verhältnis zu anderen Lebewesen nur instrumentell, d. h. auf Nutzung angelegt sein. Die Annahme einer Sonderrolle des Menschen prägt nicht nur unser alltägliches Verhalten, sondern an entscheidender Stelle auch unsere demokratische Rechtsordnung. Vermittelt über die Werke Pico della Mirandolas und Kants – um nur zwei Wegmarken zu nennen – hat der Begriff der Menschenwürde Eingang in Art. 1 des Grundgesetzes gefunden. Damit wird dem Menschen allein auf Grund seiner Spezieszugehörigkeit eine besondere Dignität und Schutzwürdigkeit zugesprochen, die anderen Lebewesen mangelt. Mir persönlich kommt – angesichts des Zerstörungspotenzials, das der Mensch entfaltet – der selbstgefällige Gattungsdünkel, den der Begriff zum Ausdruck bringt, einigermaßen befremdlich vor.

Das Selbstverständnis der Philosophie als kritische Wissenschaft lässt es glücklicherweise nicht zu, sich mit religiösen Begründungen oder einem Verweis auf das positive Recht zufriedenzugeben. Aufgabe der Philosophie ist es, die Frage nach der Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft einer rationalen und unvoreingenommenen Prüfung zu unterziehen. Als Ausgangspunkt bietet es sich an, der Frage nachzugehen, warum wir glauben, mit unseren Mitmenschen nicht beliebig verfahren zu dürfen. Sodann ist zu klären, ob und inwieweit die Gründe, aus denen wir die Schutzwürdigkeit anderer Menschen anerkennen, auch für tierische Lebewesen gelten. Ein großes Verdienst von Ursula Wolf liegt darin, sich dieser – die Grundfesten unseres moralischen Koordinatensystems berührenden – Auseinandersetzung schon sehr früh gestellt zu haben. Als ihr Buch „Das Tier in der Moral“ im Jahre 1990 erschien, steckte die philosophische Diskussion um einen verantwortlichen Umgang mit anderen Spezies noch in den Anfängen. Die pünktlich zur Preisverleihung in diesem Jahr publizierte Schrift „Ethik der Mensch-Tier-Beziehung“, die zentrale Thesen des Vorgängerwerks weiterentwickelt, bezeugt das fortgesetzte Interesse an der Thematik. Heute hat Ursula Wolf – auch auf Grund der 2008 herausgegebenen Anthologie „Texte zur Tierethik“, die sich bei den Studierenden großer Beliebtheit erfreut – als eine der bekanntesten und einflussreichsten Stimmen in der zeitgenössischen Tierethik zu gelten.

Ein wichtiger Referenzpunkt für die tierethische Position von Ursula Wolf – wenn auch in dem neuen Werk in verschiedener Hinsicht erweitert – bildet die Moralphilosophie Arthur Schopenhauers. Schopenhauer sieht im Unterschied insbesondere zu Immanuel Kant das grundlegende Bestimmungsmerkmal der Moral nicht in der pflichtgemäßen Handlung, sondern in dem natürlichen Affekt des Mitleids. Mit-Leiden kann man aber nur mit Lebewesen, die ihrerseits über die notwendigen Voraussetzungen verfügen, um eigenes Leid zu erfahren. Die Leidensfähigkeit erweist sich somit als das entscheidende Kriterium, über das sich die Zugehörigkeit zur Schutzgemeinschaft der Moral bestimmt. Ich zitiere hier aus dem aktuellen Buch der Preisträgerin. Ursula Wolf schreibt: „Auf Steine kann man keine Rücksicht nehmen, weil es ihnen nichts ausmacht, wie man sie behandelt. Rücksicht nehmen kann man auf alle Wesen, denen dies etwas ausmacht, d. h. die fühlen und leiden können, anders gesagt, die ein (subjektives) Wohlbefinden haben. Und das sind neben ‚normal‘ entwickelten erwachsenen Menschen auch Kleinkinder, geistig Behinderte und Tiere.“ (Wolf 2012: 86)

Die Festlegung des moralischen Status über die Leidensfähigkeit eines Lebewesens hat weitreichende Folgen. Sie empfiehlt, wenn auch nicht alle Tiere, so doch die höher entwickelten Spezies, die – so wie wir – Schmerzen empfinden oder auf andere Weise leiden können, unserer moralischen Sorge. Das Postulat der Leidvermeidung bietet zugleich eine wichtige Orientierung für viele Lebensbereiche, in denen wir in Beziehung zu Tieren treten. Ich kann hier nicht auf alle Anwendungskontexte eingehen, die Ursula Wolf mit großer Sachkenntnis in ihren Schriften behandelt hat. Ich möchte aber doch zumindest skizzenhaft versuchen, einige Implikationen der soeben beschriebenen Position zu verdeutlichen.

Die Forderung, unnötiges Leiden zu vermeiden, führt nicht zwangsläufig zu einem strikten Tötungsverbot von Tieren. Zumindest für die meisten Tierarten gilt, dass sie über kein Zukunftsbewusstsein verfügen und insofern völlig in der Gegenwart gefangen sind. Da sie von sich selbst keine zukunftsbezogene Vorstellung haben, wird ihnen durch die Tötung nichts genommen, was sie wertschätzen könnten. Auch bleibt eine unmittelbare subjektive Leiderfahrung aus, wenn eine schmerz- und angstfreie Tötung gewährleistet werden kann. Ob diese Möglichkeit besteht, ist freilich umstritten und von der tatsächlichen Praxis des Schlachtens weit entfernt. Aus ethischer Sicht ist aber die Tötung von Tieren zur Nahrungsgewinnung nicht zwingend untersagt. Wir sind somit – das sei zur allgemeinen Beruhigung festgestellt – nicht notwendig zu einer vegetarischen oder gar veganen Ernährungsweise verpflichtet. Die Verhinderung unnötigen Leidens gibt uns aber doch auf, Fleisch und andere Produkte zu meiden, die aus der Massentierhaltung stammen. Die vielfältigen Qualen, denen Tiere in industriellen Zuchtbetrieben ausgesetzt sind, lassen sich unter keinen Umständen – am wenigsten durch den günstigen Endpreis – rechtfertigen.

Der diesjährige Meyer-Struckmann-Preis zeichnet nun nicht speziell die Tierethik oder einen anderen Arbeitsbereich aus; er ist vielmehr dem Lebenswerk von Ursula Wolf in seiner ganzen Themenvielfalt gewidmet. Die Ehrung des Lebenswerkes möchten wir aber selbstverständlich nicht als Schlusspunkt verstanden wissen; im Gegenteil sehen wir neuen Publikationen mit Spannung entgegen. Aus unserem Gespräch, liebe Frau Wolf, weiß ich, dass die Tierethik, der die jüngste Buchpublikation vorbehalten war, nun etwas in den Hintergrund treten soll. Zukünftig soll mit der Handlungstheorie wieder ein Grundlagenthema der Praktischen Philosophie stärker in den Fokus rücken. Für Ihre neuen Projekte wünsche ich Ihnen viel Kraft und Erfolg und gratuliere Ihnen von ganzem Herzen zum Meyer-Struckmann-Preis.

Prof. Dr. Frank Dietrich (geb. 1967)

Lehrt seit 2012 an der Heinrich-Heine-Universität Praktische Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie, Moralphilosophie, Medizin- ethik und Rechtsphilosophie.
Jüngste größere Publikation: Sezession und Demokratie. Eine philosophische Untersuchung, Berlin 2010.