Sehr geehrte Frau Prorektorin Bauschke-Hartung, sehr geehrter Herr Präsident Kaiser,
Spectabilis, sehr geehrter Herr Bleckmann,
lieber Herr Kollege Dietrich,

sehr geehrte Damen und Herren,

als ich im Sommer eine E-Mail von Herrn Bleckmann erhielt mit der Frage, wann er mich „in einer durchaus erfreulichen Angelegenheit“ erreichen könne, nahm ich wie üblich an, er wolle mich für eine Kommission gewinnen oder um ein vergleichendes Gutachten bitten. Natürlich habe ich mich ein wenig über den Zusatz „erfreulich“ gewundert, dachte dann aber, das sei sicher ironisch gemeint. Als Herr Bleckmann mich am nächsten Tag anrief und mir mitteilte, dass ich den Meyer-Struckmann-Preis bekommen solle, war ich einfach nur überrascht. Ich hatte nämlich weder davon gewusst, dass ich vorgeschlagen war, noch überhaupt, wie ich gestehen muss, etwas von der Existenz dieses Preises gehört. Umso mehr möchte ich mich für diese unverhoffte Auszeichnung bedanken, über die ich mich von Herzen freue.

Dieses Jahr betrifft sie den Themenbereich „Praktische Philosophie“. Darunter ist Verschiedenes verstanden worden, und ich möchte daher zuerst erläutern, wie ich mich hier verorten würde, um dann im zweiten Teil meiner Danksagung an einem Beispiel vorzuführen, wie ich selbst auf diesem Gebiet vorgehe.

Als ich Anfang der 1970er Jahre zu studieren begann, debattierte man in der deutschen praktischen Philosophie heftig über die sogenannte Normenbegründung. Dem vorhergegangen war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der logische Positivismus, welcher die praktische Philosophie auf das reduziert hatte, was man Metaethik nennt, also auf die Thematisierung der bloßen Rede über Ethik. Bis dahin hatten die meisten bedeutenden Philosophen auch eine sogenannte normative Ethik, also einen substantiellen moralischen Standpunkt, entwickelt. Entsprechend reagierte die deutsche Debatte auf die Metaethik mit einem Rückgriff auf Kant, der wie davor schon Christian Wolff die Philosophie in theoretische und praktische einteilt. Die Aufklärung mit ihrer Hochschätzung von Vernunft und Wissenschaftlichkeit fordert in beiden Bereichen eine strenge Begründung. So wird das Praktische bei Kant auf die Moralphilosophie begrenzt; denn nur hier findet, wie er meint, „praktische Gesetzgebung der Vernunft nach dem Freiheitsbegriffe“ statt. Der Rest des Praktischen ist abhängig von unseren schwankenden natürlichen Neigungen und daher nur zweckrational begründet, wobei wir für die Erreichung von Zwecken den Naturgesetzen unterliegen, also einer theoretischen Notwendigkeit.

Nun war man sich in den 70er Jahren einig, dass Kants Konzeption der reinen praktischen Vernunft zu viele Schwierigkeiten enthält, um als eine für alle einsichtige Basis der Moral tauglich zu sein. Die Suche nach einer solchen Basis und die Betonung der Vernunft aber wurden beibehalten. So hat z.B. Ernst Tugendhat, bei dem ich damals in Heidelberg studiert habe und dem ich die klare analytische Methode verdanke, beharrlich in immer neuen Anläufen nach einer Begründung der Moral gesucht, wobei er das Vernunftsollen durch ein soziales Sollen ersetzt, dessen Verletzung mit der internen Sanktion des Anerkennungsverlusts verknüpft ist. Mein eigener Ansatz in der praktischen Philosophie ist aus der Konfrontation mit dieser Position hervorgegangen.

Es waren – und sind immer noch – insbesondere zwei Punkte, die mich nicht überzeugen. Erstens ist eine moralisch gute Person nach meiner Sicht nicht eine, die richtig handelt, um Vorwürfe oder Schuldgefühle zu vermeiden, sondern eine, die das Wohl der anderen als Bestandteil ihres eigenen guten Lebens will. Die Verankerung der Moral in einem reziproken Anerkennungssystem zwischen Personen, die zur vernünftigen Begründung ihrer Handlungen fähig sind, übersieht zweitens, dass auch Wesen, die solche Fähigkeiten nicht besitzen, Wünsche haben und leiden können und so Gegenstand moralischer Rücksicht sein sollten.

Im ersten Punkt kam mir die gleichzeitige Beschäftigung mit der antiken Philosophie entgegen, welche die praktische Philosophie nicht auf die Moraltheorie begrenzt, sondern eine Ethik als Lehre vom guten Leben insgesamt entwickelt. Außerdem verzichtet Aristoteles in der Ethik auf einen strengen Begründungsanspruch, weil diese es mit dem veränderlichen Bereich menschlichen Handelns und daher mit nur wahrscheinlichen Zusammenhängen zu tun hat. Auf den ersten Blick erscheint das allerdings merkwürdig, denn wie Sie vielleicht wissen, bestimmt Aristoteles die Philosophie gerade als theoria, d. h. als theoretische Wissenschaft, und charakterisiert sie als die am strengsten begründete aller Wissenschaften. Wie passt das zusammen?

Tatsächlich redet Aristoteles selten von praktike philosophia, praktischer Philosophie, sondern meist von der praktike episteme, der praktischen Wissenschaft. Ihr Thema fasst er breit als die Frage, wie das individuelle Leben, der Haushalt und der Staat organisiert sein müssen, damit für das Individuum und die Gemeinschaft ein gutes Leben, die eudaimonia, resultiert. Dabei ist für Aristoteles, da das Streben nach der eudaimonia primär das individuelle menschliche Leben kennzeichnet, die Grundlagendisziplin der praktischen Wissenschaft die Ethik im Sinn der Frage nach dem individuellen guten Leben. Die Moralphilosophie im engeren Sinn, die bei Aristoteles unter dem Stichwort „Gerechtigkeit“ thematisiert wird, muss im Kontext dieser Ausrichtung auf die eudaimonia gesehen werden.

Wenn wir, wofür einiges spricht, die Philosophie bei Sokrates beginnen lassen, dann liegt gerade im so verstandenen Praktischen und nicht in einer reinen theoria der Ursprung der Philosophie. In den Prüfungsgesprächen, wie sie in Platons frühen Dialogen von Sokrates geführt werden, beharrt dieser immer wieder darauf, dass es letztlich nur eine wichtige Frage für den Menschen gebe, die Frage, wie zu leben gut ist. Nun ist klar, dass diese Frage, wenn sie nach der richtigen Handlung hier und jetzt fragt, keine rein philosophische sein kann. Jedoch wird sie von Sokrates so bearbeitet, dass er diese zusätzlichen Aspekte, das faktische und psychische Material, als gegeben voraussetzt und das Philosophieren in der Methode liegt. So versucht er, die Begriffe und Argumentationsweisen, welche für unsere Selbstverständigung wichtig sind, durch Hinweis auf Inkonsistenzen, Ambivalenzen oder Unschärfen zu klären und so durch Artikulation eines möglichst breiten Verstehensfelds die Bedeutung und Implikationen der möglichen Entscheidungen einer konkreten Frage sichtbar zu machen.

Was meinen zweiten Dissens mit der Kanttradition betrifft, die Beschränkung des Moralischen auf die Interaktion zwischen moralfähigen Personen, so konnte ich mich an die angelsächsische Entwicklung anschließen. Dort wurde die Metaethik von der Wirklichkeit überholt, weil neue technische Möglichkeiten in verschiedenen Lebenskontexten Entscheidungsprobleme aufwarfen, die eine begrifflich differenzierte Fassung verlangten und so zum Wiederaufleben der normativen Ethik führten. Wie Sie wissen, beschäftigt die Philosophie sich heute mit diversen Bereichen der sogenannten angewandten Ethik: Bioethik, ökologische Ethik, Medizinethik, Tierethik und weitere. Dabei fragt die angewandte Ethik nicht nach einem Grundprinzip, sondern nach spezielleren Normen für praktische Probleme und diskutiert mögliche Antworten auf konkrete Entscheidungssituationen. Wie Aristoteles am Beginn der Nikomachischen Ethik sagt, ist das Ergebnis in der praktischen Philosophie nicht Wissen, sondern Handeln.

In der Tat könnte man diese Verwendung des Worts „praktisch“ als Kernbedeutung nehmen. Unbefriedigend an der „praktischen Ethik“ ist allerdings, dass die meisten Autoren einfach eine Moralkonzeption voraussetzen und diese dann anwenden. Warum dieses Vorgehen verkürzt ist, möchte ich jetzt anhand der Tierethik erläutern, da ich mich mit diesem Bereich in den letzten Monaten beschäftigt habe.

Meine derzeitige Auffassung hat sich in drei Stadien entwickelt. Ausgangspunkt war die Grundüberzeugung, dass Tiere in die Moral einzubeziehen sind. Diese Überzeugung versuchte ich nicht zu begründen, denn die praktische Wissenschaft kann und muss an das im Alltag erreichte Moralbewusstsein anschließen. Für dieses ist heute selbstverständlich, dass auf das Wohl der Tiere in irgendeiner Form Rücksicht zu nehmen ist. Moraltheorien, die dem nicht Rechnung tragen können, sind daher nicht ausreichend. Das erste Stadium, enthalten in meinem Buch Das Tier in der Moral, bestand in dem Versuch, meine Überzeugung bezüglich der Tiere auf möglichst einfache Weise in eine ethische Theorie zu fassen. Tiere sind leidensfähig, oder, anspruchsvoller formuliert, wir können ihnen ein subjektives Wohlbefinden zuschreiben. Dass uns an ihrem Wohlbefinden liegt, zeigt sich, wie Schopenhauer betont hat, im Affekt des Mitleids. Für einen ethischen Standpunkt genügt zwar nicht das faktische Mitleid, aber ein ethischer Standpunkt, der Tiere einbezieht, könnte eine Einstellung universalisierten Mitleids sein.

Nun gehen in eine ethische Konzeption einerseits eigene Grundüberzeugungen ein, andererseits geschieht deren Artikulation in Auseinandersetzung mit der Theorie-Debatte, die sich im Fall der Tierethik schnell ausgedehnt und differenziert hat. Dabei bin ich auf Theorien gestoßen, die man als multikriteriell bezeichnen kann, die also annehmen, dass es mehrere und heterogene Quellen der Ethik gibt. So kann Schopenhauers Ansatz beim Mitleid das Verbot, anderen Leiden zuzufügen, gut erklären, passt aber weniger gut auf die Forderungen der Gerechtigkeit. Und so war das zweite Stadium meiner Position die in einem Aufsatz vertretene Überzeugung, wir müssten mit mehreren heterogenen Quellen der Moral rechnen und könnten so auch die Verpflichtungen, die gegenüber Tieren bestehen, besser verorten und beschreiben.

Doch bleibt die Annahme heterogener Kriterien des praktisch Richtigen irgendwie unbefriedigend, denn es entsteht dann ja die Frage, wie diese zusammenhängen, wie man sie gewichten und ordnen soll. Unbefriedigend ist diese Annahme gerade auch mit Bezug auf die Tierethik. Denn zwar ist der Tierschutz im Alltagsbewusstsein und im Recht etabliert, aber die tatsächliche Praxis, wie wir sie etwa in der Massentierhaltung vorfinden, steht im Widerspruch zu der Vorstellung, dass Tiere in der Moral zählen. Kann man dann nicht einfach die Praxis als inkonsistent kritisieren? Das hilft nicht weiter. Denn wie die faktische Diskussionslage zeigt, ist die Berücksichtigung des Wohls der Tiere bei vielen Menschen von anderen Vorstellungen überlagert, die diese Rücksicht einschränken. Weit verbreitet ist immer noch die Vorstellung von einem besonderen Wert oder einer Würde des Menschen, also einer nur bei Menschen gegebenen Quelle der Moral, die zur Folge haben soll, dass Tiere zwar moralisch zählen, aber einen schwächeren moralischen Status haben als Menschen. Und das führt dazu, dass in Einzelfallentscheidungen die Rücksicht auf Tiere aus Gründen außer Kraft gesetzt wird, die man sonst, das heißt gegenüber Menschen, nicht als Rechtfertigungen einer Ausnahme akzeptieren würde.

Was also kann man im Rahmen der Ethik tun, wenn man starke Überzeugungen zugunsten der Tiere hat? Die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Tieren gehört wie jede Frage danach, wie zu handeln in einem Bereich gut ist, in den Kontext der Frage nach dem guten Leben. In diesem Sinn versuche ich in dem gerade erschienenen neuen Buch zur Tierethik, den für das Thema relevanten Teil der praktischen Wissenschaft, das zugehörige umfassendere Feld von Phänomenen und Begriffen zu klären, innerhalb dessen die engeren moralischen Fragen erst sinnvoll formuliert werden können. Genauer für diesen Bereich: Statt die unklare Rede vom moralischen Status zu verwenden, erläutere ich, und dazu braucht man auch andere Wissenschaften wie Biologie und Verhaltensforschung, welche Fähigkeiten Menschen und Mitglieder anderer Tierspezies haben, die für die Zugehörigkeit zur Moral eine Rolle spielen. Das gängige Kriterium der Leidensfähigkeit fasse ich schärfer als die Fähigkeit, sich subjektiv gut oder schlecht zu befinden. Dann wird deutlich, dass die verschiedenen inhaltlichen Normen, etwa einem anderen Wesen keine Schmerzen zuzufügen oder es nicht der Bewegungsfreiheit zu berauben, nicht unverbunden, sondern alle auf einen Punkt, das Wohlbefinden bezogen sind. Man kann weiter untersuchen, in welchen verschiedenartigen Beziehungen Menschen und Tiere zueinander stehen können und wie darin jeweils das Wohlbefinden betroffen ist. Dabei zeigt sich, dass zur Moral gegenüber selbständigen Wesen hauptsächlich Verbote der Verletzung des Wohls gehören, dass wir gegenüber hilfsbedürftigen Wesen, die in unserer Obhut sind, Fürsorgepflichten haben oder dass in reziproken Beziehungen spezielle Pflichten impliziert sind.

Wenn man auf diese Weise eine differenzierte Konzeption der Aspekte des Wohlbefindens und der Beziehungsformen herausarbeitet, dann wird besser sichtbar, dass es Bereiche gibt, in denen Menschen und Tiere gleich sind und die wenig von kulturellen Interpretationen durchdrungen sind, etwa bei elementarem physischem Leiden. Doch was kann man tun, wenn jemand auch hier aufgrund seiner Überzeugung vom besonderen Wert des Menschen einen Unterschied machen will? Die Moral ist für das handelnde Individuum nur ein Aspekt der praktischen Frage neben anderen, und je nach dem, wie die Person ihre Wertüberzeugungen gewichtet, könnte es ihr sogar gelingen, diesen Standpunkt konsistent zu formulieren. Verfügt dann die Ethik noch über eine Möglichkeit, diese Sichtweise zu kritisieren?

Auf diese Frage habe ich vorläufig keine Antwort. Um die Möglichkeiten einer für alle Menschen, die reflektiert nach ihrem guten Leben suchen, einsichtigen Gewichtung der Moral innerhalb des Praktischen abzustecken, müsste man auf der Höhe der heutigen Diskussionslage einen umfassenden Begriffsrahmen des Praktischen entwickeln und dabei die vielfältigen Bezüge des moralischen Bereichs zu anderen Bereichen und ihre gemeinsame Ausrichtung auf das Gute herausarbeiten. Das ist mein nächstes Projekt, das durch den Preis frischen Aufwind erhalten hat.

Dafür zum Schluss nochmal ganz herzlichen Dank, Ihnen allen fürs Zuhören, besonders aber der Stiftung, den Rednern des heutigen Abends, den Organisatoren und ihren Helferinnen und Helfern und überhaupt allen, die sich Mühe gemacht haben.