Magnifizenz, Spectabilis,
sehr geehrter Herr Professor Kaiser, meine Damen und Herren,
lieber Jan-Dirk Müller.

In unserem Fach, der Altgermanistik, gibt es – wie im deutschen Fußball – eine Reihe von Müllers: etwa Christoph Heinrich Myller, geboren 1740, ein Schweizer Gymnasialprofessor, der mittelalterliche Handschriften ediert und damit erstmalig epische und lyrische Werke des deutschsprachigen Mittelalters einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hat; dann zum Beispiel den nur wenig älteren Kollegen, Weggefährten und Freund des Preisträgers, Klaus Grubmüller, Emeritus aus Göttingen, den ich heute Abend hier ebenfalls herzlich begrüße; zu erwähnen sind auch die beiden Wahlösterreicher Ordinarien Ulrich Müller (Salzburg) und Stephan Müller (Wien), letzterer im Fach oft ‚der kleine Müller’ genannt. Wir haben heute den großen Müller bei uns, Jan-Dirk Müller, Geburtsjahr 1941. Er ist damit ziemlich genau 200 Jahre jünger als der ersterwähnte Züricher Christoph Heinrich Myller, in seiner Bedeutung aber ist er mit dem prominenten Vorgänger durchaus vergleichbar. Das allerdings macht es schwierig, eine angemessene Lobrede zu halten. Einer Laudatio für den großen Müller, für Jan-Dirk Müller also, ist meines Erachtens nur beizukommen mit dem abgewandelten Zitat des Buchtitels von Richard David Precht: ‚Jan-Dirk Müller, Wer ist das – und wenn ja, wie viele?’

Da ist zum einen – und ich hoffe, alle Düsseldorfer sitzen gut –, da ist also zum einen der gebürtige Kölner, der in Wien, Tübingen und eben Köln Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert hat und in dieser anderen Stadt am Rhein 1968 promoviert wurde. Sein akademischer Werdegang führte ihn über Duisburg, Heidelberg und Bielefeld bis zur ersten Professur nach Münster und schließlich zu Lehrstühlen in Hamburg und (ab 1991) in München. Gastprofessuren brachten ihn nach St. Louis, Berkeley und Lawrence. Müller ist ein wissenschaftlicher Kosmopolit und im Herzen Rheinländer.

Da ist zum anderen der Wissenschaftsmanager: mehrfacher Dekan an verschiedenen Universitäten, Projektleiter und Sprecher von Sonderforschungsbereichen und Forschergruppen, gewählter Fachgutachter der DFG, Vorsitzender der DFG-Senatskommission, Vorsitzender der Mittelalterkommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, er ist Mitglied in Beiräten (von Akademien, Bibliotheken, Forschungszentren, dem DAAD) – ich breche diese Auflistung hier ab, denn ich sehe, sie ist Jan-Dirk Müller schon mehr als unangenehm. Was jetzt stattdessen kommt, wird allerdings nicht besser.

Da ist nämlich – zum dritten – der Forscher Jan-Dirk Müller, und als wegweisender Wissenschaftler wird er heute mit dem Meyer-Struckmann-Preis geehrt. Ich kann es Ihnen, lieber Herr Müller, daher also nicht ersparen, dass ich jetzt intensiver auf Ihr wissenschaftliches Œuvre eingehe. Sie können lediglich nachher anmerken, dass ich Ihre Bücher komplett missverstanden habe.

Auch als Philologe zeichnet Jan-Dirk Müller ein großer Facettenreichtum im Sinne des Prechtschen Zitates aus. Sicher sind zentrale Linien immer wieder zu erkennen, doch hat der Preisträger stets neue Methoden ausprobiert und sie an unterschiedlichen Gegenständen durchgespielt. Damit ist der Wissenschaftler Jan-Dirk Müller ständig ein Neuer und vor allem ein Erneuerer, der das Fach vorangebracht hat, sich selbst dabei aber immer treu geblieben ist. Begonnen hat Jan-Dirk Müller als Neugermanist. In seiner 1971 bei Wilhelm Fink erschienenen Dissertation untersucht er Erzählweise und erzählte Wirklichkeit in den späten Romanen Christoph Martin Wielands, die er als Vollendung dessen deutet, was Wieland in seinen Werken Agathon und Don Sylvio bereits angelegt hat. Müller profiliert, wie der persönliche Erzähler zum Bestandteil der Romanfiktion wird und dadurch das Erzählen selbst einen radikalen Perspektivismus erfährt – eben weil die erzählte Wirklichkeit nicht objektiv als ‚wahr’ gelten kann, sondern einen bestimmten Standpunkt wiedergibt, nämlich was der Erzähler ‚wahrnimmt’, also im Wortsinn ‚für wahr’ hält. In Korrespondenz zu diesem Erzählverfahren sei Wielands Figurendarstellung einerseits um Authentizität bemüht, ihr hafte aber andererseits stets das Künstliche einer Laborsituation an. ‚Individualität’, ‚Entwicklung des Menschen in Auseinandersetzung mit der Welt’, ‚Idee der Menschheit’ sind die Stichworte, anhand derer Müller Wielands Figuren ins Visier nimmt. Seine Interpretation macht insgesamt deutlich, dass Wielands Erzählweise auf älteren, zum Teil didaktischen Literaturformen fußt und sie zugleich erzählerische Eigenarten der großen europäischen Romane des 19. Jahrhunderts antizipiert. – Auch wenn dieses erste Buch der Neueren deutschen Literaturwissenschaft zuzuordnen ist, zeigen sich doch wesentliche Tendenzen von Müllers späterer wissenschaftlicher Arbeit hier bereits angelegt: erstens ganz grundsätzlich das Wissen um die Traditionsbedingtheit jeglichen literarischen Schaffens, weshalb Dichtung nur im Rahmen einer Rekonstruktion der historischen Diskurse und Referenzsysteme adäquat zu beschreiben ist; zweitens das Interesse an großen Erzählformen und der Versuch ihrer Deutungen selbst dort, wo sich Texte gegen eine Auslegung zu sperren scheinen; drittens der kulturanthropologische Blick, mit dem Müller die Figuren alter Werke als Spiegelungen, Zerrbilder, Gegenentwürfe, in jedem Fall aber in Wechselwirkung mit historischen Bildern vom Menschen sieht. Ihre Lebenswirklichkeit zu beschreiben, ist Aufgabe der Historiker; wie jedoch Lebenswelt und Lebensformen in Dichtung verarbeitet werden und in diese eingeschrieben sind, interessiert Jan-Dirk Müller – egal ob uns 150 oder 800 Jahre von der untersuchten Zeit trennen.

So wie Goethes „Rücktendenz nach dem Mittelalter“, von welcher der Dichterfürst nach 1800 in einem Brief an Carl Friedrich Graf von Reinhard schreibt, endlich zum Abschluss des Faust I – und damit eines ursprünglich mediävalen Stoffes – führt, beschert uns auch Jan-Dirk Müllers stufenweise Rückbesinnung auf die Wurzeln unseres Faches ein wahres Meisterwerk: ich rede von der Heidelberger Habilitationsschrift aus dem Jahre 1976, etwas später wiederum bei Wilhelm Fink publiziert, sie trägt den Titel: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. In diesem Buch räumt Müller ganz grundlegend mit der romantisch-biographisierenden Maximiliansforschung auf, die den Habsburger Kaiser zur Symbolfigur der Epochenwende zwischen Mittelalter und Neuzeit stilisiert hat und seinen Selbstinszenierungen als ‚letzter Ritter’ aufsaß. Mit einem konsequent sozial- und funktionsgeschichtlichen Ansatz gelingt Müller eine andere, bis heute wegweisende Deutung des sogenannten ‚Ruhmeswerkes’, das Maximilian in Auftrag gab, beaufsichtigte und förderte und an dem er wohl auch selbst mitwirkte: die kostbaren Frühdrucke wie der Weißkunig, der verschlüsselt von Maximilians Vater berichtet und schließlich bei der eigenen Kindheitsgeschichte landet, oder der Theuerdank, der die Brautfahrt zur burgundischen Prinzessin Maria literarisch verarbeitet, sind mitnichten dichterisch veredelte Tagebücher, sondern vielmehr wohl kalkulierte Bestandteile einer auf Nachruhm angelegten Repräsentationskultur. Maximilian nutzte das Medium des Buchdruckes mit seinen optischen Möglichkeiten bis hin zum kolorierten Holzschnitt und vor allem den verbreitungstechnischen Chancen, die sich durch die Reproduzierbarkeit ergaben. Es ist Jan-Dirk Müller, der erstmals die am Hof des Kaisers entstandenen Dichtungen in ihren lebensweltlichen Zusammenhängen und Funktionen würdigt und sie dadurch als zielgerichtete Arbeit Maximilians an der eigenen memoria, dem gedechtnus, entlarven kann. Peter Strohschneider hebt in seiner vor 25 Jahren verfassten Rezension des Buches hervor, dass Müller „ästhetisch belanglosesten Texten historisch höchst bedeutsame Erkenntnisse abgewonnen“ habe. Im Rückblick zeigt sich, dass es ein grundlegender Verdienst der soziologisch ausgerichteten Literaturwissenschaft war, eben gerade auch Texte außerhalb des philologischen Kanons in den Blick zu nehmen.

Müller setzt diesen Impetus in doppelter Weise fort. Auf der einen Seite entstehen Sammelbände wie 1986 Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen (zusammen mit Gert Kaiser herausgegeben) oder 1994 Wissen für den Hof, wo in den Einzelbeiträgen literarische Verfahren und außerliterarische Lebenswelt aufeinander bezogen oder auch miteinander kontrastiert werden. Zahlreiche Aufsätze von Müller fügen sich ebenfalls in diesen Rahmen, etwa wenn er am Beispiel Jörg Wickrams das Motiv vertauschter Väter und verlorener Söhne auf seinen sozialhistorischen Ursprung bezieht und den entsprechenden Funktionszusammenhang herausarbeitet. Auf der anderen Seite widmet Müller sich Werken, die heute vielleicht zum Kanon gehören, die er selbst aber zum Teil erst zu ‚Klassikern’ gemacht hat. Die Grundlage hierfür bietet sein 1985 erschienener, weit über 100 Seiten starker Forschungsbericht zum Volksbuch bzw. Prosaroman im 15. und 16. Jahrhundert. Müller zeigt, dass der dichterische Umgang mit Wirklichkeitserfahrung und die Aktualisierung bestimmter Erzählmodelle einander bedingen und sich eine Traditionslinie erkennen lässt, die auf spätere Romantheorie vorausweist. Am spezifischen Umgang mit Geschichte kann Müller dabei die Gattungsproblematik von Volksbuch und Prosaroman neu aufrollen. Nicht nur die Einholung dieser Werke in den philologischen Fokus, sondern auch und besonders die von Müller aufgeworfenen Fragestellungen haben die nachfolgende Forschung bis heute geprägt. Und Müller selbst hat es keinesfalls bei einer reinen Perspektivierung von künftigen Aufgaben belassen (das passiert ja allzu oft), vielmehr geht er mit gutem Beispiel voran und löst die von ihm formulierten Desiderate auch ein – mit Editionen der Primärtexte, Sammelbänden und wiederum unzähligen Aufsätzen.

Doch Müller wäre nicht Müller im Sinne Prechts, könnte man ihn auf diese Facetten, obschon es bereits viele sind, festlegen. Während die soziologisch ausgerichtete Literaturwissenschaft häufig dazu tendierte, Dichtung als Steinbruch zu benutzen, und sich darauf zu beschränken drohte, lediglich Parallelen zwischen Literatur und Leben positivistisch zusammenzutragen, geht Jan-Dirk Müller den methodisch notwendigen Schritt weiter zu einer Kulturanthropologie, die er für die Textinterpretation fruchtbar macht. Es entsteht dabei 1998 ein großartiges, bei Niemeyer erschienenes Buch, das ihn nun endlich ganz ins Hochmittelalter führt und den für die Zeit um 1200 kanonischen Text schlechthin behandelt: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. – So absurd es für Fachfremde klingen mag, das besondere Verdienst von Müller ist es, das Nibelungenlied als zu interpretierendes Werk wieder gewonnen zu haben. Über viele Jahre hinweg galt das Diktum des Marburger Mediävisten Joachim Heinzle, der das mittelhochdeutsche Großepos von der Ermordung des Drachentöters Siegfried, vom unermesslichen Goldschatz, den Hagen im Rhein versenkt, von der grausamen Rache Kriemhilds, die ihre eigenen Brüder am Hof Etzels umbringen lässt, für nicht interpretierbar hielt. Zu hart schienen Heinzle die Brüche in der Erzählung, zu kantig die Widersprüche im Handeln der Figuren. Jan-Dirk Müller dagegen nutzt im Sinne einer Heuristik der Interpretation gerade diese vermeintlichen Defizite, die sich einer kohärenten Deutung sperren, um sie als Modus der mittelalterlichen Aneignung des germanischen Sagenstoffes zu akzeptieren und neuzeitliche Kohärenzerwartungen für mediävales Erzählen grundsätzlich zurückzuweisen. Er versteht den Personenverband als eigentliches Agens der Handlung; Verwandtschaft, Vasallität und vriuntschaft sind über triuwe hergestellte Gemeinschaften, die in dem Moment fragil werden, wo Treuekonflikte aufbrechen oder die triuwe selbst ambiguisiert erscheint. Die Fachwelt ist Müller nicht immer in allen Einzelergebnissen gefolgt, wenn er in sehr genauen Deutungsschritten seine Sicht der Darstellungsstrategien und Erzählverfahren des Nibelungenliedes offenbart; sie ist sich gleichwohl darüber einig, dass ein solch großer Wurf zum Nibelungenlied überfällig und notwendig war, um die Forschung aus einer Sackgasse zu befreien und einen der wichtigsten Texte der deutschen Sprache wieder zum Interpretieren freizugeben. Wie Hagen den Burgunden ist damit Müller den Nibelungen ein helfelîcher trôst.

Die konsequente Fortsetzung findet das mutige Nibelungenbuch in dem 2007, wiederum bei Niemeyer publizierten Band, den Müller selbst einen „Versuch“ und ein „Wagnis“ nennt: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Wieder geht es Müller um erzählerische Großformen, wieder versteht er die höfische Laienkultur als Katalysator und zugleich Ermöglichungsbedingung, um historische Kulturmuster aufzurufen und ihnen ein spezifisches literarisches Gewand zu geben. Indem Müller an die Stelle der Gattung die Erzählform setzt, kann er – die Einzeltexte übergreifend – anthropologische Konstanten in ihren narrativen Transformationen beschreiben. Dabei nehmen die gewählten Kategorien stets den Menschen ins Visier: Genealogie und Familie, Einzelperson und Gruppe, Handlungsspielräume zwischen Heimlichkeit und Öffentlichkeit, Leidenschaft und minne. Gerade durch die Verbindung von Kultur- und Literaturtheorie mit einem philologisch genauen Blick auf die Texte gelingt es Müller, ein Gesamtbild der höfischen Epik des Hochmittelalters zu entwerfen, und zwar in dem kulturellen Kontext, der sie einerseits hervorgebracht hat und den sie andererseits selbst mit konstituiert.

Viele Steine in meinem Mosaik fehlen, einen zentralen Punkt spreche ich noch an. In kleineren, aber gewichtigen Publikationen hat JanDirk Müller – auf ganz verschiedenen Ebenen – mediale Aspekte des hoch- und spätmittelalterlichen Literaturbetriebs diskutiert. Für den Minnesang als Aufführungsform und Vollzugskunst nimmt er verschiedene Grade von Fiktionalität an: die Rede des konkreten vortragenden Sängers einerseits und den universellen Geltungsanspruch des höfischen Frauendienstes andererseits. Ob ‚Fiktionalität’ als Kategorie hier wirklich greift und wir nicht vielmehr das rollenhafte Sprechen im Minnesang profilieren müssten, sei jetzt dahin gestellt. In jedem Fall hat Müller die historische Vortragssituation als Bestandteil einer Textform gewürdigt, deren Bedeutung vollständig nur performativ entsteht; und wenn er auf dieser Basis handschriftliche Überlieferungsvarianten als „geronnenen Vortrag“ akzeptiert, führt er die Pseudokontingenz mittelalterlicher variance, von der Cerquiglini spricht, zurück in die Materialität der Manuskripte. Ähnliches gilt für das Verbreitungsmedium des Buchdruckes. In einem 2003 erschienenen Aufsatz deutet Müller die Besonderheiten im Layout von Sebastian Brants Narrenschiff als autoreferentiellen Ausweis der Buchform, und er knüpft daran die Frage von Textidentität und Autorfunktion. Bei seinen Untersuchungen zum geistlichen Spiel schließlich geht es Müller um Wahrnehmung im Spannungsfeld von Ritual und Theater, Aufführung und Mimesis, Präsenz und Repräsentation; er lotet den als ob-Charakter der Darstellung in der konkreten Aufführung aus und reklamiert ihn auch als einen Bestandteil der Textbedeutung, der selbst thematisch wird. Wiederum bleibt Müller nicht auf dieser ersten Stufe stehen, sondern er geht über die Materialität von Handschrift und Druck und dann noch mal über die Performativität von Aufführung hinaus. Müller denkt Medialität weiter, nämlich als Vermittlungsinstanz oder besser: Modus der Wahrnehmung. Interessant ist für ihn hier insbesondere der Sehsinn als Medium der Rezeption, denn der Sehsinn ist ein Distanzsinn und setzt daher eine bestimmte Entfernung von sehendem Subjekt und gesehenem Objekt voraus. In die Poetik mittelalterlicher Dichtung ist – so Müller – dieses Phänomen eingeschrieben, da höfisches Erzählen immer mit Visualisierungsangeboten arbeitet und die Eigenimagination des Rezipienten befördert. Wenn dann im Spätmittelalter Holzschnitte die Visualisierungsoptionen ausformulieren und festhalten, markiert dies auch die Entwicklung der semioralen Laienkultur des Hochmittelalters hin zur modernen Wissensgesellschaft.

Wer nun aber glaubt, er kenne Jan-Dirk Müllers Œuvre aufgrund meiner rudimentären Zusammenstellung, den muss ich enttäuschen. Müllers Texte sind nicht leicht zu durchdringen, sie fordern den Leser permanent auf, sich einzulassen, mitzudenken, Stellung zu beziehen, um dann mit komplexer Argumentation Volten zu schlagen so wie Wolframs Erzähler im Parzival alsam ein schellec hase (‚wie ein Haken schlagender Hase’). Müller provoziert damit im ersten Moment vielleicht Widerspruch, er bringt seine Leser aber letztlich immer dazu, in die von ihm interpretatorisch eröffneten literarischen Welten einzutauchen und sie – zumindest zeitweise – mit seinen Augen zu sehen. Auch diejenigen, die seinem Entwurf am Ende nicht folgen möchten, hat er inspiriert und zu neuem Nachdenken, Überdenken angeregt.

Unsere anerkannte geisteswissenschaftliche Fachkultur – und das kann nicht oft genug gesagt werden – lebt ja gerade davon, dass keine endgültigen Ergebnisse behauptet werden; es geht vielmehr darum, Möglichkeiten auszuprobieren, um die Diskussion voranzutreiben. In der gemeinsamen Auseinandersetzung über den Gegenstand wird dann ein Erkenntnisprozess befördert, dessen Ende offen bleibt, offen bleiben muss. Jan-Dirk Müller hat viele Verstehensoptionen eröffnet und zahlreiche kulturelle Phänomene, die noch unsere heutige Gesellschaft bestimmen, auf ihre historischen Füße gestellt. Seine Forschungen sind Arbeit am gedechtnus unserer eigenen Kultur.

Wenn Jan-Dirk Müller heute den Meyer-Struckmann-Preis für sein Lebenswerk erhält, haftet dem etwas Endgültiges, Abschließendes an. Das aber darf und wird in keinem Fall so sein. Wir erwarten weitere Bücher von Ihnen, Herr Müller! Im Sinne der von mir beschriebenen Tendenz, historisch immer tiefer einzusteigen, kommt ja vielleicht in den nächsten Jahren ein Versuch über die althochdeutsche Dichtung. Wir sind weiter gespannt und gratulieren von Herzen.

Prof. Dr. Ricarda Bauschke-Hartung (geb. 1966)

Lehrt seit 2008 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Ältere deutsche Literatur und Sprache.
Arbeitsschwerpunkte: Kulturtransferforschung, Lyrik im europäischen Kontext, erzählende Texte des Hochmittelalters.
Jüngste größere Publikation: Goethe und die Lyrik des Mittelalters, Düsseldorf 2011.