Magnifizenz,
Spectabilis,
lieber Herr Kaiser,
sehr geehrte Vertreter der Meyer-Struckmann-Stiftung, liebe Frau Bauschke,

meine Damen und Herren.

Zu den Ritualen einer solch schönen Feier wie dieser gehört es, dass der Preisträger sich für die Verleihung des Preises bedankt, und das will ich auch aufrichtig und aus vollem Herzen tun. Ich habe viel Freundliches über mich gehört, ganz besonders in Ihrer Laudatio, liebe Frau Bauschke, der ich stellvertretend für alle anderen dafür herzlich danken möchte. Aber über das vielfältige Lob sage ich am besten nichts, denn da kann selbst der Versuch, das Gesagte etwas herunterzustimmen, eitel wirken. Doch möchte ich betonen, dass das, was Sie an Gründen für die Verleihung angeführt haben, nicht nur mich, sondern unsere ganze Münchner Gruppe betrifft, die meine Arbeiten seit Jahren begleitet hat, meine Mitarbeiter, aber auch meist jüngere Kollegen von anderen Lehrstühlen, die inzwischen überwiegend an anderen Universitäten tätig sind und für deren Anregungen ich nicht genug danken kann.

Von dem Dank für die Auszeichnung meiner Person muss ich den Dank abheben, der der Auszeichnung meines Fachs gilt. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass die Kuratoren der Meyer-Struckmann-Stiftung das Mittelalter zum Rahmen der Preisverleihung bestimmten. Angesichts einiger neuerer bildungspolitischer Tendenzen ist das sogar sehr mutig. Wo man sich um ‚Entrümpelung‘ von Studiengängen und vor allem von schulischen Lehrinhalten bemüht, da kommt die Rede meist sehr rasch auf das Mittelalter. Während die Mediävistik in der germanistischen und historischen Lehrerbildung der Universitäten – von leider immer häufigeren Ausnahmen abgesehen – noch einigermaßen fest verankert ist, ist sie in Romanistik und Anglistik meist zum bloßen Anhängsel der Sprachwissenschaft verkümmert oder auf die zufälligen Vorlieben und Kompetenzen einzelner Dozenten angewiesen. Besonders traurig sind die Verhältnisse im Schulalltag. Dort werden mittelalterliche Texte wie Nibelungenlied oder ‚Parzival‘, wenn sie überhaupt behandelt werden, vor allem der pubertierenden Jugend zugemutet, einmal, weil die Texte im Durchgang durch die Literaturgeschichte in der 9. und 10. Klasse einfach ‚dran‘ sind, dann aber auch, weil Helden wie Siegfried oder Parzival mindestens den männlichen Schülern in diesem Lebensalter nahezustehen scheinen: das Mittelalter als Abenteuerspielplatz.

Umso erstaunlicher ist deshalb der Erfolg der großen Mittelalterausstellungen, die – neben ähnlichen Veranstaltungen zum Gold des Priamus oder dem Mongolensturm – Jahr für Jahr Busladungen von Touristen anziehen, die, didaktisch kompetent belehrt, große Herrscher und Herrscherdynastien kennenlernen, von staunenswerten Rittertaten und von christlicher Expansionspolitik ins Heilige Land hören und nebenher erfahren, wie es hierzulande einmal zuging, wie ein Leben ohne Auto und Telefon aussah, welch hohen Standard das Kunsthandwerk einstmals hatte und zu welchen Leistungen eine überwiegend dem religiösen Kult dienende Kunst in der Lage war: das Mittelalter als Teil unserer Freizeit- und Eventkultur.

Ist das alles? Ich glaube, das wäre zu wenig. Gestatten Sie deshalb, dass ich einige Minuten über die Bedeutung von ‚Mittelalter‘ und ‚mittelalterlich‘ für unsere Gegenwart nachdenke und einige Überlegungen anstelle, die es m. E. rechtfertigen, dass diese Epoche – ihre Literatur, ihre Kunst, ihre Geschichte – durch einen Festakt wie diesen wieder ins Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit gerückt wird. Daran anschließend möchte ich wenigstens kurz meine Vorstellung von einer Mediävistik entwerfen, die diesem Mittelalterbild entspricht und die ihr Verhältnis zur Gegenwart reflektiert.

Zunächst das Negative: ‚Mittelalterlich‘ ist ein Schimpfwort. Als mittelalterlich bezeichnen wir abgelebte Verhältnisse, die heutzutage Gottseidank überwunden sind. Mittelalterlich heißen Familienbilder, in denen Mann und Frau nicht dieselben Chancen zur Selbstverwirklichung haben, sind Erziehungsmethoden, die auf Zwang und Gewalt setzen, sind Autoritäten, die sich nicht rational und diskursiv ausweisen. Als mittelalterlich gilt das islamische Recht der Scharia im Vergleich mit modernen westlichen Rechtssystemen. ‚Mittelalterlich‘ eignet sich deshalb als diffamierender Distinktionsbegriff für außerwestliche, als zurückgeblieben geltende Gesellschaften. Aber mittelalterlich hat auch zwar nicht weniger herabsetzende, doch harmloser-umgangssprachliche Bedeutung. „Warum vom Mittelalter reden“ sagt Groucho Marx, wenn eine mittelalte Dame von ihrer Jugend sprechen will, und das ist wie meist bei Grouchos Flirts mit Margarethe Dumont nicht freundlich gemeint. Das Mittelalter ist dadurch definiert, dass es gottlob vorbei ist, auch wenn man sich mancherorts noch mit den überständigen Verhältnissen herumschlagen muss, die es hinterlassen hat.

Dieses Mittelalterbild hat weit zurückreichende Wurzeln. In einem berühmten Brief Ulrichs von Hutten an Willibald Pirckheimer aus dem Jahre 1518, in dem Hutten gegenüber dem älteren Freund Rechenschaft ablegt, wie er es ausdrückt, die ratio seines Lebens darlegt, preist er den Anbruch einer neuen Zeit, gipfelnd in dem Ruf: Jetzt lohnt sich zu leben – „O seculum! O literae! Iuvat vivere, etsi quiescere nondum iuvat [. . .]. Vigent studia, florent ingenia“: ‚O Jahrhundert, o Wissenschaften. Es lohnt sich zu leben, wenn es auch noch nicht Zeit ist, sich auszuruhen. Die Studien gedeihen, es blühen die Talente‘. Der Brief gilt als eine der Gründungsurkunden der Neuzeit, jedenfalls in Deutschland, und als solcher wurde er seit dem 19. Jahrhundert gelesen, als Abrechnung mit dem Abgelebten, Erstarrten, eben Mittelalterlichen. Wie berechtigt Huttens Ausruf war, wie neu das Neue war, das er pries, und wieviel Mittelalter noch jahrhundertelang fortlebte, darüber streiten sich die Historiker. Für die protestantisch sozialisierten Liberalen des 19. Jahrhunderts verkörperte der Reichsritter den Bruch mit Klerikalismus, Ultramontanismus, Scholastik, Kleinstaaterei. Ein Jahr vor jenem Brief – 1517 – hatte Martin Luther seine Thesen an die Wittenberger Schlosskirche angeschlagen, und wenig später wiederum stand er vor dem Wormser Reichstag – ‚Hier steh ich, ich kann nicht anders‘. Das alles schienen Gründungsurkunden des deutschen Sonderwegs in die Moderne. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg, zuletzt sogar noch in der skurrilen ‚Erbe‘-Diskussion der DDR hat sich die Auffassung gehalten, dass das moderne Deutschland mit Luther und dem Humanismus in der Abkehr vom Mittelalter beginnt.

Da konnte die Wissenschaft seit den 1920er Jahren dem Aufbruch der Renaissance des 14.–16. Jahrhunderts in die Moderne die Renaissance des 12. Jahrhunderts entgegensetzen, und die Reformationsgeschichte konnte zeigen, wie viel Mittelalterliches Luther und seine Gefolgsleute wieder zur Geltung bringen wollten: Im allgemeinen Bewusstsein hat sich trotzdem die triadische Periodisierung Antike – Mittelalter – Neuzeit gehalten, selbst noch bei Marx und Engels, die sie zur Abfolge Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus umdeuteten.

Bekanntlich stammt der Begriff Mittelalter aus dem 16. Jahrhundert, von Cellarius, doch ist das Konzept älter, bestimmte seit dem 14. Jahrhundert die Begegnung der Intellektuellen mit der Antike. In einem berühmten Brief an Francesco Colonna suchte Petrarca im Jetzt der römischen Ruinen das Einst des glanzvollen antiken Rom. Zwischen Altertum und Gegenwart liegt eine Zeit des Verfalls, das von Barbaren dominierte Mittelalter. Die Erfahrung des Verlustes des klassischen Erbes mündet in einen Appell auf die Wiederherstellung des Verlorenen. Viele sind Petrarca darin gefolgt, nicht nur Italiener, für die das Mittelalter obendrein die Zeit teutonischer Fremdherrschaft war. Seit dem 15. Jahrhundert setzte sich überall in Europa der Gedanke des Anbruchs einer neuen Zeit durch, die an die verlorene Vollkommenheit der Antike anknüpfen konnte.

In diesem Geschichtsmodell ist das Mittelalter eine ‚Zwischenzeit‘, zwischen der antiken und der frühneuzeitlichen Blüte, eine ‚finstere‘ Zeit des Niedergangs, die überwunden werden muss, soll man zu einstiger Größe zurückkehren. Das Dunkel soll weichen. In der Renaissance inszeniert sich eine säkulare Bewegung als Anbruch eines neuen Tages. Die Lichtmetapher gab der Aufklärung, dem siècle des lumières, seinen Namen. Seit dem mittels der satirischen Dunkelmännerbriefen geführten Streit der Humanistenfraktion gegen die ‚scholastische‘ Universitätsphilosophie des Mittelalters heißen dagegen alle Ewig-gestrigen Dunkelmänner. Und der Aufstieg Europas und des Westens insgesamt wurde als Fortschritt verstanden, durch den mittelalterliche Traditionen und Institutionen eine nach der anderen beseitigt werden, zuletzt am spektakulärsten vielleicht zu Ende des Ersten Weltkriegs, doch sich fortsetzend in der immer weiter gehenden Säkularisierung von Staat und Gesellschaft.

Der Fortschrittsoptimismus ist der Moderne freilich zunehmend abhandengekommen. Die Krise Alteuropas, die sich von der Sattelzeit um 1750 bis zum Ende des ersten Weltkriegs hinzieht und in der die tradierten Ordnungen in sozialer, politischer, religiöser sowie kultureller Beziehung verabschiedet werden, ist auch mit einer Verlusterfahrung verbunden. An das geschichtsphilosophische Bild fortschreitender Rationalisierung und Befreiung glaubt keiner mehr. Das Mittelalter gewinnt an Interesse in dem Maße, in dem das Pathos seiner Überwindung durch die alternde Moderne selbst zweifelhaft geworden ist. Die Beschäftigung mit dem Mittelalter konnte damit zu einem Medium einer Kritik der Moderne werden. Das erste Mal geschah das in der Romantik.

Die heutige Kritik argumentiert freilich nicht im Sinne einer romantischen Rückkehr zu verlorenen Ursprüngen, wie man vor gut 200 Jahren hoffte. Das triadische Geschichtsmodell ließ sich ja bekanntlich auch genau entgegengesetzt bewerten. Dann war die ‚mittlere Zeit‘ keine der Verfinsterung, sondern im Gegenteil die verlorene Zeit einer glücklichen Einheit, nach der sich die Zerrissenheit der Moderne zurücksehnte. In seinem Aufsatz ‚Die Christenheit und Europa‘ setzte Novalis den Modernisierungsschäden des 18. Jahrhunderts die angebliche Harmonie des Mittelalters entgegen:

Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte [. . .].[1]

Die Mediävistik hat dieses Wunschbild christlicher Harmonie längst ad acta gelegt. Wer es kritisiert, rennt offene Türen ein. Mir kommt es hier aber gar nicht auf Hardenbergs politisch-religiöse Vision an, sondern auf das Einheitsphantasma, auf dem sie basiert. Es wendet das Bild vom ‚finsteren‘ Zeitalter nur ins Positive. Nicht der Tag, die Nacht ist die gute Zeit. Novalis entwirft das Mittelalter als eine Epoche einer alle miteinander verbindenden, unentfremdeten Ganzheit. In dem Abschnitt, dessen Anfang ich zitiert habe, heißt es in dichter Folge: „jedermann“, „Jedes Glied“, „allenthalben“, „alle“, „jedermann“. Dieses Einheitsphantasma, das Bild vom Mittelalter als einer geschlossenen Epoche, ist weit zählebiger als seine inhaltliche Konkretisierung als christlicher Universalismus. Es gehört nämlich zum Selbstverständnis der Moderne, dass ihr eben diese Einheit verloren gegangen ist. Die Moderne ist ihrem Selbstverständnis nach durch Pluralismus der Werte, Normen, Lebensformen gekennzeichnet, der irgendwann in der Frühen Neuzeit ausbricht und Einheit und Geborgenheit zerstört. Der Modernisierungsprozess wird als ein Prozess zunehmender Pluralisierung aufgefasst. Sein Ergebnis ist eine offene plurale Gesellschaft.

Dieses gemeinsame Erbe von Humanismus und Romantik ist noch lange nicht bewältigt. Sich an ihm abzuarbeiten macht die Mediävistik zu einer der spannendsten Disziplinen unter den historischen Kulturwissenschaften, die über eine gefährliche Selbstillusion der Moderne aufklären kann. Denn: trifft dieses Bild zu? Das Mittelalter war doch in vielem viel pluraler als die Moderne. Kehrseite der Pluralisierungsprozesse in der Moderne sind ja Tendenzen zunehmender Vereinheitlichung. Was unter dem Stichwort der Globalisierung gefeiert wird, zielt auf eine weltweite Uniformität der Lebensverhältnisse. Der moderne Pluralismus ist mit Einebnung historisch gewachsener Differenzen erkauft. Das Mittelalter dagegen kennt andere Formen von Pluralität. Man denke an die Konkurrenz und Überlagerung unterschiedlicher Rechtskreise, -traditionen und -systeme, an die Zersplitterung des sozialen und politischen Raums, an die Differenzen zwischen monastischer, amtskirchlicher und Volksfrömmigkeit, an die Spannungen zwischen laikal-feudalen und klerikalen Wertordnungen, an die Ungleichzeitigkeiten der Lebensformen zwischen Hof, Stadt und Land, an das Gefälle zwischen litterati (das heißt im Mittelalter: Schriftkundigen) und illiterati (Analphabeten), an den Abstand zwischen den intellektuellen Zentren und der übrigen Welt usw. usw. Das alles macht Novalis’ Einheitsphantasma zum schönen Wunschbild, das nichts mit der mittelalterlichen Lebenswirklichkeit zu tun hat.

Die neuere Mediävistik hat zunehmend diese Heterogenität des Mittelalters herausgearbeitet. Unter dem Stichwort ‚Postkoloniale Mediävistik‘ hat Ursula Peters einschlägige Studien hierzu zusammengestellt. Der Begriff ‚Kolonialismus‘ wird dabei aus dem Kontext der europäischen Expansion seit der Frühen Neuzeit herausgelöst und umfassend verstanden: als „kulturelle Konfrontation“, als Interaktion „unterschiedlicher Lebensformen, Verhaltensnormen, Wertesysteme, Ideologien und Welthaltungen, das Gegeneinander von dominierenden und marginalisierten Gruppen“. „Kulturinterne Differenzen [. . .] spielten sich auf den verschiedensten Ebenen ab, als Gegensatz von Latein und Volkssprache, gelehrter Kleriker- und Laienwelt, Elite- und Volkskultur, als Verflechtung von kirchlicher Lehre und paganen Frömmigkeitsformen, Konfrontation von christlichen Glaubenspraktiken und heidnischen Widerstandsformen, höfischer Adelswelt und mythischen Residuen, vor allem aber als das Aufeinandertreffen der verschiedensten Ethnien in den meisten Gegenden Europas“.[2]

Die christliche ‚Leitkultur‘ der Kleriker kann die vielfältigen gewachsenen, im Sinne des Kolonialismusdiskurses ‚hybriden‘ Verhältnisse immer nur zu einem Teil durchdringen. Die disparaten Ordnungen müssen in ihrem Verhältnis zueinander immer wieder neu ausgehandelt werden. Und so kann das Mittelalter als eine Art Laboratorium der Verarbeitung kultureller Differenz verstanden werden. Mit dem Begriff der Hybridisierung sieht sich die Mediävistik auf ein zentrales Konzept der neueren Kulturwissenschaft verwiesen. Das Mittelalter wird damit zum Paradigma einer neuen Historik, die sich von den ‚Großen Erzählungen‘ und ihren Einheitssuggestionen verabschiedet hat. Verabschiedet wurde insbesondere der Gedanke eines ‚teleologisch gekämmten‘ Geschichtsverlaufs (Christian Meier), der auf die Moderne als sein Ziel und seine Vollendung zuläuft. Verweigert man sich dieser Perspektive, wird es möglich, Verluste des Modernisierungsprozesses zu bilanzieren, ohne die Errungenschaften der Moderne aufzugeben und in romantische Einheitsträume zurückzufallen.

Eine solche Mediävistik hat auch ihre nationalphilologische Prägung hinter sich gelassen. Im Zeichen der Romantik hatten die Nationalphilologien des 19. Jahrhunderts die Ursprünge des eigenen Volks in der mittelalterlichen Vergangenheit gesucht. Die mittelalterliche Kultur bot eine Alternative zur kosmopolitischen, an der Antike orientierten Kultur des Klassizismus und der Aufklärung; in ihr konnte sich das Eigene artikulieren, der esprit gaulois z.B., germanischer Heroismus oder auch die berüchtigte Nibelungentreue. Das Mittelalter war auf die gegenwärtige Nation ausgerichtet. Das konnte nationalistisch missbraucht werden, in Deutschland etwa in der Rezeption der Heldendichtung. Solche Gefährdung mag mit schuld daran sein, dass manchmal bis hinauf in die Ministerialbürokratien das Interesse am Mittelalter als reaktionär, da aggressiv nationalistisch angesehen wird. Das Mittelalter ist aber tatsächlich – um ein Modewort zu zitieren – multikulturell.

Indem man sich an den teleologischen Voraussetzungen des traditionellen Mittelalterbildes abarbeitete, wurden nicht nur auf große Epochensynthesen zielende geschichtsphilosophische Konstruktionen abgelöst, sondern auch die Geschichte großer Kollektivsubjekte – ‚der‘ Nation, ‚der‘ Vernunft, ‚der‘ Freiheit und dergleichen. Historische Prozesse setzen sich aus gegenstrebigen, untereinander unabgestimmten Einzelgeschichten zusammen, von denen einzelne auf unsere Gegenwart zulaufen, andere nicht, manche in Sackgassen enden oder ganz einfach verschwinden. Interessanter als Synthesen wie ‚die‘ höfische Kultur mit ihrem Anspruch, ‚sowohl Gott wie der Welt zu gefallen‘, sind die vielen unabgestimmten Phänomene, literarische wie außerliterarische, die diesen Anspruch teils bestätigen, teils unterlaufen.

Zu entdecken ist ein anderes Mittelalter. ‚Für ein anderes Mittelalter’, das war schon vor mehr als 30 Jahren die Devise von Jacques le Goff. Gemeint war ein Mittelalter, das nicht nur aus den großen philosophischen Entwürfen, den Spitzenwerken von Literatur und Kunst erarbeitet wurde, sondern auch die Alltagsmentalitäten und -praktiken einschloss, das nicht nur aus der Kultur der Oberschichten bestand, sondern ebenso die Volkskultur einbezog, das orale Traditionen umfasste, die materiellen Lebensbedingungen, alles, was unterhalb der schriftsprachlichen Kultur der Kleriker überliefert war. Le Goff forderte ein Mittelalter der „longue durée“, deren bestimmende Faktoren mit den Mitteln einer „historischen Anthropologie“ zu analysieren waren.[3] Im Zeichen seines Programms entstanden zahlreiche Untersuchungen, wobei sich rasch herausstellte, dass ‚Mentalität‘ ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Phänomene war, für mythomorphe Denkordnungen und religiöse Rituale, für Phantasmen, Träume und Visionen, für Habitus und Alltagsroutinen, für soziale Ordnungsmuster und narrative Schemata und vieles andere noch. Und die ‚lange Dauer’ impliziert weit mehr und weit spektakulärere ‚Ungleichzeitigkeiten’, als das ältere, kürzere und seit der Frühen Neuzeit als relativ geschlossene Epoche entworfene Mittelalter, das Le Goff überwinden wollte. Das ‚lange Mittelalter’ ist das heterogene und plurale Mittelalter, das unabgestimmt unterschiedliche Kulturen unterschiedlicher Gruppen in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen und Lebensbereichen umfasst und das in manchen seiner Folgen, anders als Hutten glaubte, noch keineswegs zu Ende ist.

Die Arbeit an diesem Mittelalter könnte mit einem entspannteren Verhältnis zu den Disparitäten unser eigenen Welt verbunden sein. Ich komme noch einmal auf meine Anfangsbemerkungen zurück. Der Begriff ‚mittelalterlich‘ ist überwiegend negativ besetzt. In ihm artikuliert sich ein zivilisatorischer Hochmut: Wie herrlich weit haben wir es doch gebracht! Solch ein Hochmut richtet sich nicht nur auf die Vergangenheit. Man muss nur an das angeblich ‚mittelalterliche‘ Recht der Scharia denken. Der Subtext ist doch, dass man dem zurückgebliebenen Islam empfiehlt, sich langsam mal auf die Höhe des 21. Jahrhunderts zu begeben. Dieser zivilisatorische Hochmut ist ein Basso continuo gegenwärtiger Auseinandersetzungen des Westens mit dem Rest der Welt. Die Reflexion unseres Verhältnisses zum Mittelalter könnte dazu beitragen, diese Auseinandersetzungen etwas rationaler zu machen.

Gerade wenn man es in seiner heterogenen Vielfalt in den Blick nimmt, lehrt das Mittelalter, dass ‚anders’ keineswegs ‚schlechter’ bedeutet, dass ‚anders’ aber auch keineswegs eine Zukunftsperspektive enthalten muss, eine diskutable Alternative zum Bestehenden. Man kann das andere respektieren, auch wo man es für sich selbst ablehnt. Kein Mensch würde heute ernsthaft für die peinlichen Strafen des Mittelalters (Blenden, Abhacken der Hand, Rädern usw.) plädieren; niemand bestreitet das Gewaltmonopol des Staates, das erst in der Frühen Neuzeit gegen feudales Fehderecht durchgesetzt werden musste; niemand würde die mittelalterliche Überzeugung von der Minderwertigkeit der Frau teilen, weil sie bei Südwind gezeugt sein soll; niemand würde daraus das misogyne Bild einer angeborenen weiblichen Lüsternheit und Hinterlist ableiten und das Züchtigungsrecht des Mannes für widerspenstige Weiber fordern; kein Mediävist tritt für Leibeigenschaft, für eine undurchlässige Ständegesellschaft und für die gottgewollte Massakrierung von Ketzern und Heiden ein, und allenfalls einige Esoteriker glauben an Elementargeister, zauberkundige Zwerge, Feuer speiende Drachen und verführerische Nixen. Kurz: Was im Mittelalter galt, ist unwiderruflich vergangen und für uns nicht mehr akzeptabel. Das ist aber nur die eine Seite.

Was damals galt, war nämlich nicht einfach Barbarei, Unsinn und Aberglaube, über die man sich mit einem überlegenen Achselzucken hinwegsetzen könnte. Es gehörte zu einer historischen Sozialordnung, war Teil von Weltentwürfen, Gesellschaftsbildern, Imaginationen, die miteinander zusammenhingen, auch wenn sie untereinander nicht in allem vollständig stimmig waren. Es leitete sich schlüssig aus ihnen ab. Die Mediävistik setzt sich zur Aufgabe, solche Zusammenhänge zu rekonstruieren, in meiner Sprache: die feudalen Spielregeln für den Untergang am Beispiel der nibelungischen Welt zu beschreiben, höfische Kompromisse zwischen den Normen einer Kleriker- und einer Adelswelt auf ihre Tragfähigkeit abzuklopfen oder – vielleicht in Zukunft – Aporien einer christlichen Kriegerkultur zu untersuchen. Solche Rekonstruktionen laden nicht zur Identifikation ein – im Gegenteil: kein junger Mann, der die Regeln des Minnedienstes analysiert, dürfte künftig seine erotische Biographie nach diesem Minnedienst modellieren wollen –, aber sie fördern das Verständnis des Fremden, das dann nicht mehr skurril oder unsinnig oder unmoralisch ist, sondern unter den Bedingungen einer vergangenen Welt sinnvoll. Das Mittelalter bietet Alteritätserfahrungen, die zwangsläufig den Blick darauf lenken, dass die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten unserer eigenen Kultur keineswegs selbstverständlich sind, sondern unter kontingenten historischen Bedingungen so geworden, wie sie sind. Geschichtliche Verläufe und geschichtliches Handeln sind, anders als man uns in der Finanzkrise einreden möchte, nie alternativlos. Ihre Spielräume allerdings unterscheiden sich zu unterschiedlichen Zeiten, und sie erscheinen den jeweiligen Zeitgenossen als stabil und vorgegeben und unausweichlich. Diese Ansicht zu erschüttern betrachte ich als eine meiner vornehmlichsten Aufgaben als Mediävist.

Und hier kommt dann noch eine aktuelle Perspektive ins Spiel. Die Regeln der Beschäftigung mit diachroner Alterität sind übertragbar auf die Beschäftigung mit synchroner. Was ,vertikal‘ gilt, lässt sich ‚horizontal‘ umformulieren. Auch in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen fremden Kulturen wird niemand bei uns das Verschleierungsgebot einführen wollen. Aber man wird sich bemühen müssen, seine Wurzel in und Begründung aus einer fremden Kultur zu verstehen. Eine historisch begründete Einsicht in die Relativität kultureller Selbstverständlichkeiten kann vielleicht ein wenig die Toleranz dort fördern, wo es sonst auf einen Kampf der Kulturen hinauszulaufen scheint. In diesem Sinne (und nicht nur in dem einer ästhetischen Herausforderung) würde ich Hans Robert Jauß‘ Diktum von der Alterität der mittelalterlichen Literatur als Grund ihrer Modernität aufnehmen. Und in diesem Sinne war es vom Kuratorium des Meyer-Struckmann-Preises weise, einmal das Mittelalter ins Zentrum zu rücken.

Es bleibt mir, ein weiteres Mal allen Beteiligten, den Rednern dieser Feier, dem Preisverleihungsgremium, den Helfern, den Kollegen, die die Ehrung anregten oder begleiteten, herzlich zu danken.

  • [1]

    Werke, hg. u. kommentiert von Gerhard Schulz, München 1969, 499-518; hier 499.

  • [2]

    Ursula Peters: Postkoloniale Mediävistik? Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Spielart der Mittelalter-Philologie. In: Lutz Danneberg et al. (Hrsg.): Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften. De Gruyter. 2010, S. 214.

  • [3]

    Vgl. Jacques Le Goff: Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.–15. Jahrhunderts. Ausgewählt von Dieter Groh. Eingeleitet von Juliane Kümmel (Sozialgeschichtliche Bibliothek, Frankfurt/M. u. a. 1984, S. 21.