Verehrter, lieber Herr Bredekamp

Performance, Installation, Cyberspace, Gaming, Film, Photographie, Werbung – aber auch Skulptur, Malerei, Druckgraphik, Architektur: nicht nur unsere alltägliche Umgebung und das, was mit Kultur verbunden wird, sind bildlich gefasst und werden bildlich erfasst, unser Lebensraum aktuell und in allen seinen historischen Dimensionen ist von Bildern geprägt, und zwar in einem umfassenden Sinn. Ein Preis, der für das Gebiet «Theorie und Kulturen des Bildes» vergeben wird, muss deshalb an jemanden gehen, der mehr als eine Bildwissenschaft konzipiert und praktiziert. Mit der Theorie des Bildes verbindet sich die Auffassung, dass «in seiner fundamentalen, ersten Definition ... der Bildbegriff jedwede Form der Gestaltung»[1] umfasst, wie unser Preisträger in seinem am heutigen Tage erschienenen Buch Theorie des Bildakts formuliert. Demgegenüber verbindet sich mit den «Kulturen des Bildes» nicht nur die Praxis der Bildbetrachtung, der Umgang mit dem Bild (auch im Sinne einer Konservierung, Aufbereitung, Deutung) oder das Perpetuieren von Bildern, sondern darüber hinaus das Denken in Bildern, das Konstituieren neuer Formen des Bildes, das Versprachlichen bildhaften Denkens. Horst Bredekamp postuliert im Vorwort seiner vorjüngsten, im Juli erschienenen Veröffentlichung Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären einer frühen Neuzeit (das Buch erschien nach der Entscheidung der Jury) gemeinsam mit den Mitherausgebern, dass «das Denken in und das Denken mit Bildern» Leitkategorien seien, «die das Selbstverständnis des frühneuzeitlichen Individuums und seinen Zugang zur Welt bestimmen». Damit hat er paradigmatisch auch seinen Ansatz zum Umgang mit Bildern formuliert, der keineswegs nur auf das 16. und 17. Jahrhundert begrenzt bleiben muss und einen Raum für das Zusammenspiel unterschiedlichster Disziplinen eröffnet.

Mit den «Kulturen des Bildes» sind neben den uns täglich umgebenden Bildern auch diejenigen verbunden, die sich schon in der Vergangenheit als schnelllebig oder ephemer nach kurzer Zeit der Betrachtung entzogen haben: die «stehenden Bilder» der Festkultur, also bildgewordene menschliche Inszenierungen (die Vorgänger der Tableaux vivants), bewegte Bilder, die von Automaten hervorgebracht werden, als vergänglich konzipierte Gartengestaltungen (die ihre Nachahmung in der LandArt finden). Die «Kulturen des Bildes» umfassen jedoch auch massenhaft produzierte Gebrauchsgegenstände wie mittelalterliche Tonfiguren, Pilgerzeichen, keltische Gürtelschnallen oder auch Sammelbildchen um die Wende zum 20. Jahrhundert – diese wie die zuvor genannten sind als wirksame Bildmotive oder bildhafte Ausdrucksformen mit ihren spezifischen Formen und Farben in unserem kulturellen Gedächtnis verankert. Mit den «Kulturen des Bildes» verbinden sich aber auch – und keineswegs zuletzt – die bildgewordenen Denkfiguren wissenschaftlicher Traktate und die erst hinterher sprachlich gefassten Bilder und Schemata, die naturwissenschaftlichen Theorien zugrunde liegen. Alle genannten Erscheinungsformen hat unser diesjähriger Preisträger Horst Bredekamp im Blick, wie ich nun erläutern möchte.

In den letzten Jahren hat sich eine interdisziplinäre Reflexion über Bilder und Bildlichkeit auch institutionell etabliert – so etwa in einem Nationalen Forschungsschwerpunkt in der Schweiz (Gottfried Boehm) oder in Graduiertenkollegs (allen voran Bild-Körper-Medium von Hans Belting in Karlsruhe). Den Schwerpunkt auf die digitalen Bildmedien und die Computervisualistik legen das «Department für Bildwissenschaften» an der Donau-Universität Krems und das noch im Aufbau befindliche «Virtuelle Institut für Bildwissenschaft», eine elektronische Plattform, auf der sich Bildforscher verschiedener Disziplinen zusammengeschlossen haben, um ihre interdisziplinären bildwissenschaftlichen Projekte zu koordinieren. Wenn wir heute Ihnen, lieber Herr Bredekamp, den Meyer-Struckmann-Preis für die «Theorie und Kulturen des Bildes» verleihen, so werden damit nicht nur Ihre Forschungen, sondern auch Ihre Verdienste um die Etablierung einer genuin interdisziplinären Diskussion über alle Grenzen hinweg gewürdigt. Wir sind überzeugt, dass Ihre Auffassung von Bildwissenschaft den gesamtgesellschaftlichen Diskurs betrifft, jenseits aller Spezialisierungen. Ich möchte versuchen, Ihren Ansatz mit einem Bild zu erläutern, das einer Ihrer Veröffentlichungen entstammt, die zwar heute Abend nicht im Mittelpunkt steht, deren Gegenstand gleichwohl immer einen besonderen Platz in Ihrem Leben eingenommen hat: das Fußballspiel. Von der Analyse einer kleinstformatigen Radierung von Jacques Callot ausgehend haben Sie mit Ihrer Veröffentlichung Florentiner Fussball: Die Renaissance der Spiele (1993) nicht weniger als die kulturgeschichtliche Verankerung des Fußballs als eines adligen Vergnügens im höfischen Festwesen, in Politik, Dichtkunst und Zeremoniell aufgezeigt. Mir erscheint diese «wichtigste Nebensache der Welt», die Sie in einem Aufsatz vor mehr als 25 Jahren als das «letzte Gesamtkunstwerk« bezeichnet haben, auch geeignet, Ihre Auseinandersetzung mit den Bildwissenschaften zu erläutern. Dabei sei mir bei der Zusammenstellung Ihres Teams erlaubt, auf die heutige Mannschaftsgröße zu rekurrieren (15 Stürmerpositionen wie damals in Florenz wären heute nicht glaubhaft zu besetzen).

Der Kapitän der Mannschaft, das versteht sich heute Abend wahrscheinlich von selbst, sind Sie, Herr Bredekamp, mit der Disziplin der Kunstgeschichte – welche Position Sie allerdings auf dem Feld einnehmen, das wird sich noch zeigen. Lassen Sie mich in aller Kürze Ihren Trainings- und Karriereverlauf nachvollziehen: 1947 in Kiel geboren, verließen Sie 20 Jahre später, kurz nach der Aufnahme des Studiums die Ihnen vertraute Küste, um in München, Berlin und Marburg Kunstgeschichte, Archäologie, Philosophie und Soziologie zu studieren, 1974 wurden Sie in Marburg promoviert. Danach erfolgte mit dem Volontariat am Liebieghaus Museum Alter Plastik in Frankfurt am Main eine Trainingseinheit, die Ihren Ansatz in der Kunstgeschichte bis heute geprägt hat: Mit einem Volontariat in einem Museum geht nicht nur die Kenntnis des Ablaufs einer solchen Institution einher, sondern es ist in aller Regel die Möglichkeit zur vertiefenden Anschauung, zur Übung und Wertschätzung der Beschreibung, der verbalen Erfassung der Kunstwerke und ihrer wissenschaftlichen Aufbereitung für die Ausstellungs- und Bestandskataloge sowie der Vermittlung der Objekte in Ausstellungen an unwissende Betrachter. Diese Arbeit führt über Jahre hinweg zu einer Kennerschaft, die Sie als eines der Standbeine eines guten Kunsthistorikers für den Umgang mit Bildern ansehen. Sie sind einer der ganz wenigen akademischen Kunsthistoriker, die diesen Weg eingeschlagen haben und dann zur Universität zurückgekehrt sind. Bis heute ist für Sie die Kunst der adäquaten Beschreibung grundlegend für eine Wissenschaft, die sich mit dem Bild beschäftigt, und der Kunst der Vermittlung haben Sie sich verstärkt in diesem Millennium wieder mit viel beachteten Ausstellungsprojekten zugewandt. Nach dem zweijährigen Volontariat schloss sich das akademische Training in Form einer Assistenz an der Universität Hamburg an, wohin Sie unmittelbar danach im Jahr 1982 dann als Professor berufen wurden. Nach der Wende und der damit einhergehenden Neuordnung der Universitäten in den östlichen Bundesländern schlugen Sie 1992 den Ruf in den tiefen Westen nach Bonn aus und stellten sich den Herausforderungen an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo Sie bis heute wirken – nicht ohne einen Ruf als Direktor der Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte) in Rom 1998 und einen anderen auf einen Lehrstuhl an die Ludwig-Maximilians-Universität in München 1999 abgelehnt zu haben.

Vielleicht ist es auch diese stabilitas loci an einer Universität, in einem Verein, gewissermaßen, die Ihnen die Kraft gab, zu einem der großen Global Player der Kunstgeschichte zu werden: als Visiting Member des Institute for Advanced Study in Princeton (1991), als Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin (1992 und seit 2002 im Status des Permanent Fellow), als Visiting und Resarch Scholar am Getty Center und am Getty Research Institute in Santa Monica und Los Angeles (1995 u. 1998), als Visiting Scholar am Collegium Budapest (1999), als Träger der Hans-Georg-Gadamer-Professur der Universität Heidelberg (2005). Ihre internationale Vernetzung und Bedeutung für die Geisteswissenschaften tritt noch deutlicher mit den zahlreichen Mitgliedschaften in Akademien und Kommissionen hervor – es sind seit 1992 achtzehn mit wechselnder Dauer –, von denen hier nur Ihre Mitgliedschaften in der Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle genannt seien sowie Ihre Mitwirkung im Beirat des Wissenschaftskollegs in Berlin (seit 1997), in der Kommission des Wissenschaftsrates «Zukunft der Geisteswissenschaften« und «Zukunft der Medienwissenschaften« (2004–2006 bzw. 2006–2007) sowie im Fachbeirat des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte in Rom und Florenz.

Horst Bredekamp, das dürfte deutlich geworden sein, spielt in der ChampionsLeague der Wissenschaften; für seine Forschungen wurde er im Jahr 2006 mit dem Max-Planck-Forschungspreis und im Jahr 2009 mit dem Richard-Hamann-Preis für Kunstgeschichte an der Universität Marburg ausgezeichnet; seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Doch kehren wir zur Bildwissenschaft aus der Perspektive Horst Bredekamps zurück, die ich mit einem Zitat des Preisträgers vorstellen möchte: »Wenn», so resümiert Horst Bredekamp 2004, zwei Jahrzehnte nach dem iconic turn und dessen Folgen, »Archäologie und Kunstgeschichte als die genuinen Bild-Disziplinen ihre Traditionen als historische Bildwissenschaften reaktiviert haben, wenn die Filmwissenschaft nach der Erzählung die Bildhaftigkeit der Filme in den Vordergrund stellt, wenn die Philosophie die Reflexion des Bildes privilegiert, wenn die Literaturwissenschaft das Wechselverhältnis von Schrift und Bild analysiert, wenn die Historik die Bildquellen aus dem Odium der Illustration löst, wenn die Wissenschaftsgeschichte die visuelle Konditionierung von science betont, wenn die Jurisprudenz an einer Ikonologie des Rechts arbeitet, wenn die gegen den Ikonoklasmus der Bourbaki-Gruppe gerichtete Formel ‹Seeing is believing› in der Mathematik nachwirkt, wenn die Biologie erstmals seit Darwin das Kriterium der Schönheit für die natürliche Auslese erörtert und wenn die auf allen Feldern der Naturwissenschaften agierende Computervisualistik analysiert wird, dann sind dies Anzeichen, dass auch im Bereich der Forschung ein tief greifender, durch die modernen Bildtechniken und den Wunsch nach visueller Teilhabe hervorgerufener Wandel geschieht, der sich in der gesamten Kultur vollzieht.«[2]

Mit diesem Zitat wird deutlich, dass Horst Bredekamp nicht nur die klassische Kunstgeschichte im Blick hat, wenn er den Themenbereich Bildwissenschaften behandelt; er versucht vielmehr, kunstwissenschaftliche Methoden für bildwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar zu machen und damit eine Neuorientierung der Bildforschung zu erreichen, die auch für das Denken konstitutiv ist: Ihm zufolge sind Bilder geschichts-, handlungs- und theorieprägend. Dies möchte ich am Beispiel einiger Veröffentlichungen umreißen, die Sie, lieber Herr Bredekamp, als Libero des Teams, der in der Lage ist, viele Positionen einzunehmen, in Erscheinung treten lassen:

In einer beeindruckenden kleinen Monographie haben Sie selbst die Verbildlichung des Darwin’schen Evolutionsmodells auf eine Auseinandersetzung zwischen existierenden Baumdiagrammen und den Abbildungen von Korallen zurückführen können.[3] Hierbei, so haben Sie gezeigt, erschien nicht nur funktional die Koralle als Abbildung der Vererbungslehre geeignet, sondern Sie konnten auch die damit verbundene ästhetische Dimension sowie die Verbreitung der Koralle in der Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts für den Rückgriff auf dieses Modell glaubhaft machen. Die Darstellung von biologischen Modellen – gesteigert in der Bildhaftigkeit der Neurowissenschaften – wird von einem bildlichen Denken geprägt, das zutiefst in unserer Kultur wurzelt und engste Bezüge zur Kunstgeschichte als einer Geschichte von Formen und Denkformen zeigt.

Vergleichbar revolutionierend im Hinblick auf den Prozess der Erkenntnis in den Naturwissenschaften ist Ihr Buch zu Galileo Galilei (2009). Der bedeutende Naturwissenschaftler und Astronom gibt der Wahrnehmung, also den Sachen und der Natur, Vorrang vor der begrifflichen Erfassung. Galilei hat, so können Sie mit Ihrer Untersuchung glaubhaft machen, «im Bild» einen «fundamentalen Beitrag für die gestaltende Reflexion der Welt»[4] gesehen. Galileis maltechnische Ausbildung, seine besonderen Fertigkeiten bei den Feder-, Rötel- und Tuschzeichnungen oder beim Kupferstich haben Sie seine «zeichnerische Intelligenz» rekonstruieren lassen. Sie konnten nachweisen, dass, vereinfacht gesagt, Galileis Zeichnungen zu seinen Beobachtungen von Sonne und Mond mithilfe des Teleskops nicht als schmückendes Beiwerk betrachtet werden dürfen, sondern zwingender Bestandteil der Beobachtung sind. Die theoretische Erkenntnis geht aus der Beschreibung der Zeichnung hervor; das Bild geht der Erkenntnis also voraus und wird durch die Verbalisierung auch für andere erkenntnisleitend. Wie schon die Biologie erweist sich auch die Astronomie als ein guter Teamplayer für die Bildwissenschaft.

Ähnliche Phänomene eines bildhaften und bildgeprägten Denkens konnten Sie auch bei Leibniz aufdecken, dessen Herangehensweise Sie in Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst (2004) untersucht haben. Leibniz glaubte, dass den Bildern eine eigentümliche Kraft innewohne, die sich auf den Betrachter übertrage und dessen Denken forme. Das von ihm postulierte «Theater der Natur und Kunst» wurde in den Wunderkammern, Kunstsammlungen, Gärten, Maschinen, Grotten, Laboratorien abgebildet, in denen man Dinge und Details aus Kunst, Kultur, Technik und Natur simultan betrachten konnte. Auf diese Art und Weise, so glaubte Leibniz, könne man sich «der Vielzahl der Sehpunkte nähern, über die der göttliche Blick verfügt»[5]. Eine vertiefte Anschauung der Dinge also liegt auch der Leibniz’schen Philosophie zugrunde.

Philosophie, Astronomie und Biologie sind, wie Sie gezeigt haben, wichtige Mitspieler in einem Team der «Bildwissenschaft», die ein solides Mittelfeld aufmachen und von zahlreichen Ersatzspielern aus Physik, Anatomie und den Ingenieurswissenschaften ergänzt werden. Eingereiht werden in das Team muss auch die Medizin, denn die neuen «bildgebenden Verfahren« der Medizin machen sichtbar, was nicht nur dem Laien, sondern auch dem Experten in dieser Anschaulichkeit bislang verborgen war. Technische Messungen werden in Bilder transformiert, doch liegen diesen anscheinend objektiven oder neutralen Wissensbildern, die durch digitale Techniken konstruiert werden, Sehkonventionen und kunstgeschichtliche Vorbilder zugrunde, zudem werden sie ästhetisch optimiert. Diese Faktoren, die sicherlich auch einer Popularisierung der Wissenschaften dienen, prägen zugleich die wissenschaftliche Erkenntnis des Phänomens, das die Bildgebung veranschaulicht. Sie, Herr Bredekamp, arbeiten an einer Theorie des digitalen Bildes und holen damit die eingangs zitierten Bilder, die Netzkunst, in die Diskussion einer Bildwissenschaft jenseits disziplinärer Fachgrenzen.

Mit Ihren Büchern zu den Bilderkämpfen (1975), zu Botticelli (1990), zu Sankt Peter in Rom (2000) und zu Michelangelo (2009) haben Sie genuin kunsthistorische Fachbeiträge geliefert, doch bereits mit der Veröffentlichung zum Garten von Bomarzo (1995), der Hinwendung zur Geschichte der Kunstkammer (1995) und der großen Ausstellung Theatrum Naturae et Artis in Berlin (2000) war eine deutliche disziplinäre Erweiterung verbunden, zu der sich mit der Analyse der visuellen Strategien bei Thomas Hobbes (1999) noch die Gebiete der Staatsphilosophie und der Politik hinzugesellen. Ihre Mannschaft der Bildwissenschaft, so lässt sich resümierend festhalten, ist also mit der Computervisualistik im Sturm, einer Erweiterung des Mittelfeldes um Jura und Mathematik und mit der Geschichte, Archäologie und Anthropologie in der Abwehr fast komplett.

Lieber Herr Bredekamp, Sie haben mit diesen gewichtigen Untersuchungen gezeigt, dass eine Bildwissenschaft, wenn man zugleich die Kulturen des Bildes im Blick hat, wesentliche und neue Ansatzpunkte für einen intensiven Diskurs mit den Naturwissenschaften bietet, der fakultäre Grenzen sprengt. Sie plädieren für eine Bildwissenschaft ohne Gattungsgrenzen, ohne freilich die Einzeldisziplinen aufzuheben. Ihr Ausgangspunkt und ihre Leitwissenschaft für diese Bildwissenschaft ist jedoch eindeutig die Kunstgeschichte, da sie die Bildwissenschaft methodisch begründet hat, indem sie die Methoden der materialen Bestimmung, der historischen Zuschreibung und der semantischen Deutung auf alle visuell gestalteten Gebilde anwendet – und dies bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts, als von einem Diskurs über ‹Bildwissenschaft› noch lange keine Rede war. Sie wurzelt letztlich im Aby Warburg’schen Umgang mit Bildern.

Aby Warburg, der Hamburger Bankierssohn, der um die Wende zum 20. Jahrhundert eine kulturwissenschaftliche Methode zur Arbeit an und mit Bildern in wenigen bis heute gültigen Aufsätzen und Bildtafeln entworfen hat und als Vater aller Forschungen zu einem bildhaften kulturellen Gedächtnis gelten muss, Aby Warburg hat Sie, lieber Herr Bredekamp, während Ihres gesamten beruflichen Lebens begleitet: Noch während Ihrer Assistentenzeit am Institut für Kunstgeschichte in Hamburg erhielten Sie den Aby M. Warburg-Förder-Preis der Stadt Hamburg, doch haben Sie sich auch über Ihre Zeit in Hamburg hinaus mit ihm beschäftigt: Leisten Sie doch als Mitherausgeber der «Gesammelten Schriften» Aby Warburgs seit 1998 (und Herausgeber eines eigenen Bandes dazu) ein aktives Bekenntnis zu dieser Form der Bildbetrachtung, weshalb Sie 2005 auch mit dem Aby M. Warburg-Preis der Stadt Hamburg bedacht wurden. Mit Ihrem am heutigen Tage erschienenen Buch Theorie des Bildakts legen Sie erneut Zeugnis von dieser Verbindung ab: «Der Sinn der Theorie des Bildakts wäre getroffen, wenn sie als retrospektive Sendung einer Flaschenpost in die Hamburger Jahre des Zusammenspiels von Aby Warburg, Ernst Cassirer und Edgar Wind verstanden würde»[6] – so schreiben Sie darin. Warburg ist, so würde ich das sehen, als Gründervater einer Bildwissenschaft der Torwart Ihres Teams. Damit ist Ihre Mannschaft der ‚Bildwissenschaft’ komplett, und die in ihr vereinten Disziplinen können sich die Bälle der Aussagen über die unterschiedlichen Bildformen, Bildtypen und Bildverwendungen zuspielen, können mit weiten Pässen das Spiel der Diskussion über die verschiedenen Verfahren der Bildherstellung und -bearbeitung befördern, können mit Doppelpässen strategische Erörterungen über die speziellen Bedingungen der Bildrezeption und -distribution vorantreiben oder auch ganz allgemein einen Anstoß zur Reflexion des Begriffs des Bildes und seiner Stellung innerhalb des wissenschaftliches Diskurses geben. Sie, lieber Herr Bredekamp, haben bereits die Steilvorlage dazu gegeben und für Ihren Beitrag zu «Theorie und Kulturen des Bildes» mit dem Meyer-Struckmann-Preis für Geisteswissenschaften heute das Tor erzielt.

Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch (geb. 1961)

Lehrt an der Heinrich-Heine-Universität Kunstgeschichte. Wichtigste Arbeitsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Kunst im Mittelalter, Materialität und Produktion in der Kunst, die Repräsentation des ‚Alter(n)s’, Kleidungsforschung, Bühnenbilder vom 16. bis 19. Jahrhundert, Ikonologie und Methodik sowie Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, die Kunstvermittlung.

Jüngste größere Publikation: Ausstellungskatalog „Der Sturm – Zentrum der Avantgarde“ Wuppertal 2012

  • [1]

    Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 34.

  • [2]

    Horst Bredekamp, »Drehmomente – Merkmale und Ansprüche des iconic turn«, in: Maar, Christa / Burda, Hubert (Hg.), Iconic turn. Die neue Macht der Bilder, Köln, 2004, S. 15–26, S. 17.

  • [3]

    Horst Bredekamp, Darwins Korallen. Die frühen Evolutions- diagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005.

  • [4]

    Horst Bredekamp, „Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand“, 2. korr. Aufl. Berlin 2009, S. 8.

  • [5]

    Horst Bredekamp, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004, S. 192.

  • [6]

    Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 53.