Magnifizenz, Herr Prorektor, Herr Altrektor, liebe Frau Professorin Hülsen-Esch, hochverehrter Laureatus,
meine Damen und Herren!

In welcher Funktion ich hier und heute zu sprechen gebeten worden bin, ist mir – offen gestanden – nicht ganz klar: Für das Land kann ich nicht mehr sprechen, und für die Stadt schon lange nicht mehr...! Und eingeklemmt zwischen drei Grußworten und einer eigenen Laudatio ist mir laut Einladung auch noch die «Festrede» zugewiesen worden – was fast schon wie eine Drohung klingt ...!

Da ich mir also offensichtlich meine Rolle selber aussuchen darf, will ich – als Beamter, der ich nun einmal (wenn auch im «einstweiligen» Ruhestand) bin – gemäß der Devise «Hoch lebe der Vorgang» genau das Gleiche tun, was ich hier bei meiner letzten Rede – im Falle der Verleihung des Preises an Prof. Dr. Hartmut Böhme im Jahr 2006 – getan habe, nämlich das letzte Buch des Preisträgers zu rühmen, damit Sie alle, meine Damen und Herren, es kaufen, lesen und/oder verschenken...!

Beide Bücher, nämlich «Fetischismus und Kultur – eine andere Theorie der Moderne» von Hartmut Böhme[1] und «Theorie des Bildakts. Frankfurter AdornoVorlesungen 2007» von Horst Bredekamp[2], haben denn auch viel miteinander zu tun. Man muss der Dr. Meyer-Struckmann-Stiftung und den Verantwortlichen der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf schon konzedieren: Dass sie stets ganz im Sinne von Avantgarde die Nase vorn haben und bereits im Zeitpunkt des Erscheinens von – in beiden Fällen m. E. epochemachenden – Büchern deren Urheber mit diesem Preis auszeichnen und einen «Riecher» dafür haben, dass beide Bücher so zusammengehören wie «Pott und Deckel» und daher beide Autoren auch den gleichen Preis verdienen. Im Falle unseres heutigen Preisträgers ist das Buch sogar noch gar nicht – bzw. erst seit heute – im Handel.

Und dennoch – Suhrkamp und unserer Düsseldorfer, diesen Namen verdienenden «Literaturhandlung» Müller & Böhm sei Dank! – habe ich es bereits von vorn bis hinten gelesen....

Beim letzten Mal habe ich bei gleicher Gelegenheit Hartmut Böhmes Buch auf eine Ebene mit Horkheimers und Adornos «Dialektik der Aufklärung» gestellt und wegen der Einfachheit seiner Grundthese «Dinge tun etwas mit uns Menschen und nicht nur wir mit ihnen»

Friedrich Schlegel zitiert: «Alle höchsten Wahrheiten sind durchaus trivial und eben darum ist nichts notwendiger als sie immer neu und womöglich paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, dass sie noch da sind, und dass sie nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können.»[3]

Dieses Schlegel-Zitat trifft auch auf Horst Bredekamps «Theorie des Bildakts» zu: Was Hartmut Böhme für die «Dinge» schlechthin auf den Punkt gebracht hat – dass sie eben etwas mit uns tun und nicht nur wir mit ihnen –, das formuliert Horst Bredekamp für das spezielle Ding «Bild», indem er die Quintessenz der Lehre vom Bildakt wie folgt auf den Punkt bringt: «Bilder sind nicht Dulder, sondern Erzeuger von wahrnehmungsbezogenen Erfahrungen und Handlungen».[4] Seine Theorie des Bildakts zielt mit seinen Worten «auf eine Aufklärung, welche die lebendige Eigenkraft des Bildes als eine der Bedingungen ihrer selbst erachtet. (...) Dies bedeutet, jenen Sphärenverlust ungeheuren Ausmaßes zu überwinden, den die Moderne mit ihrer Privilegierung des Subjekts als Erzeuger und Halter der Welt produziert hat.»[5] «Reziprok zum Sprechakt liegt die Problemstellung des Bildakts darin, welche Kraft das Bild dazu befähigt, bei Betrachtung oder Berührung aus der Latenz in die Außenwirkung des Fühlens, Denkens und Handelns zu springen.» ... «Im Sinne dieser Frage» versteht Bredekamp «unter dem Bildakt eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln, die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht.»[6] Von «einer vollgültigen Aufklärung» kann nach Bredekamps Überzeugung erst gesprochen werden, «wenn diese das Visuelle, Haptische und Auditive als Primärfelder ihrer Bewährung einbezieht.»[7]

Meine Damen und Herren, das hat – im zitierten Schlegel’schen Sinne – so noch nie jemand formuliert, es sei denn – in freilich lyrischer Form – der auch von Bredekamp selbst zitierte Rainer Maria Rilke angesichts des Torsos von Milet im Pariser Louvre:

«...denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.»[8]

Es würde hier zu weit führen, die Bezugnahmen von Bredekamp auf Platon (insbesondere dessen Höhlengleichnis), Heidegger, Lacan, Cusanus, das Stadttor von Capua mit seinem Bildnis Friedrichs II. von Hohenstaufen und auf viele andere Quellen zu schildern und seine Unterteilung des Bildakts in einen schematischen, substitutiven und intrinsischen Bildakt darzustellen. Was aber seine Theorie des Bildakts für uns heute, die wir ja an einem einzigen Tag mehr Bilder und Zeichen sehen als ein durchschnittlicher Mensch vor 200 Jahren in seinem ganzen Leben und die wir Tag für Tag Kriege, Katastrophen und tausendfache Tode über die Medien «zeitgleich» miterleben, ohne dass wir jemals die Chancehätten,dies alles durchTrauerarbeitzuverkraften,bedeutet, macht Bredekamp am Thema des von uns allen miterlebten asymmetrischen Krieges oder, wie er es nennt, des «Bilderweltkriegs» anschaulich[9]

Bilder der Zerstörung der Buddha-Statuen von Barmiyan in Afghanistan, der Twin-Towers von New York am 11. September 2001, der Folterungen von Abu Ghraib oder der Gefangenen von Guantánamo werden plötzlich zu «Waffen», die sogar – wie im Falle von Guantánamo – zu regelrechten Rohrkrepierern werden können, indem sie sich gegen ihren Urheber und Absender richten. Menschen werden nicht als Bild gezeigt, weil sie getötet wurden, sondern sie werden getötet, um sie als Bild einsetzen zu können.[10] «All diese Vorgänge kommen darin zusammen, dass die Vertauschung von Körper und Bild ubiquitär als Kriegsmittel eingesetzt wird, obwohl dies durch die Genfer Konvention nicht gedeckt ist. Dies lässt es als zwingend erscheinen, den substitutiven Bildakt aus einer historischen Perspektive ernst zu nehmen und in seiner zerstörerischen Seite zu erkennen, zu benennen und anzugreifen. Die Extremformen der Substitution machen die Trennung von Bild und Körper zu einem Gebot der lebenserhaltenden Aufklärung»[11] Hieraus ergibt sich für Bredekamp «das Gebot einer politischen Theorie und einer umfassenden Praxis der Distanz. Sie erscheint gegenwärtig so fern wie notwendig».[12]

Bereits 1997 hat Bredekamp in seinem Aufsatz «Das Bild als Leitbild. Gedanken zur Überwindung des Anikonismus»[13] eine Parallele zwischen dem Anikonismus und dem Analphabetismus gesehen. Die Dominanz technischer Bilder mache die «Differenzbildung von Schein und Sein, Vorstellung und Wirklichkeit stärker als in früheren, eher wortgeprägten Epochen zur unabdingbaren Voraussetzung jeder gedanklichen Anstrengung.»[14] «Die hochtechnisierten und massenmedial vernetzten Gesellschaften sind nicht darin zu schelten, dass die Bilder zum Ferment der Kommunikation geworden sind und dass ihre scheinbare Fähigkeit, ubiquitär und wertneutral jeden Gegenstand und jedes Ereignis visuell zu beschaffen, die Wahrnehmung der Wirklichkeit tiefgreifend verändert hat. Was not tut, wäre analog zur einmal erfolgten Alphabetisierung vielmehr eine ‹Ikonisierung›: eine Schulung des Sehvermögens und des Verständnisses für die Subgeschichte von Bildern.»[15]

Und hier möchte ich mit Friedrich Schillers «Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen»[16] hinzufügen: Die einseitige Aufklärung des Verstandes reicht nicht aus, um die tatsächliche Ohnmacht der Vernunft gegenüber der Politik aufzuheben. Erst der Kunst – und demzufolge der ästhetischen Erziehung – kommt hierfür die zentrale Rolle zu, und zwar durch Ausbildung des Empfindungsvermögens. Oder um es mit dem ebenfalls von Bredekamp zitierten Italo Calvino zu sagen: Für das 3. Jahrtausend drohe die Gefahr, «dass wir ein fundamentales Vermögen des Menschen verlieren könnten: Die Fähigkeit, mit geschlossenen Augen konturenscharfe Bilder zu sehen, aus der Reihung von schwarzen Buchstaben auf einer weißen Seite Farben und Formen aufsteigen zu lassen, in Bildern zu denken. Was mir vorschwebt, ist eine Pädagogik der Einbildungskraft.»[17]

Peter Sloterdijk hat bekanntlich die These aufgestellt, dass heute die Schranke zwischen dem Ästhetischen und Logischen hinfällig werde. «Etwas merken ist Wahrnehmung, ist Ästhetik im weitesten Sinne und bleibt bis in die letzte Instanz die Angelegenheit des Denkens.»[18] Und Wolfgang Welsch sekundiert in seinem m.E. ebenfalls epochalen Buch «Ästhetisches Denken»: «Ausschlaggebend für ... diese Verlagerung von einem logozentrischen zu einem ästhetischen Denken ist eine Verlagerung der Wirklichkeit selbst» ... «Heutige ‹Wirklichkeit› ist wesentlich über Wahrnehmungsprozesse, vor allem über mediale Wahrnehmung konstituiert. Daher ist ihr auch nur noch mit einem wahrnehmungsfähigen Denken beizukommen.»[19]

Meine Damen und Herren, ob wir für ein solches ästhetisches Denken gerüstet sind, wage ich freilich zu bezweifeln. Vor allem, ob Schule dies leistet. Daher kommt Horst Bredekamps Theorie des Bildakts das Verdienst zu, uns nicht nur vor Augen zu führen, dass und wie Bilder etwas mit uns machen, sondern auch auf die dringende Notwendigkeit hinzuweisen, dass wir der ästhetischen Erziehung wieder einen erheblich höheren Stellenwert einräumen müssen. Ästhetische Erziehung muss wieder untrennbarer Bestandteil von Bildung werden. Und wenn wir uns zum Ziel gesetzt haben, 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung auszugeben, dann muss hieran auch die ästhetische Erziehung einen gebührenden Anteil erhalten. Die Kulturhaushalte allein können das nicht leisten. Es geht dabei um Bildung – und damit auch um die Bildungshaushalte!

Doch bevor ich mich weiter in meinem Lieblingsthema verliere, möchte und muss ich schließen und meine Komplimente, Glückwünsche und meinen Dank an

Sie, Herr Prof. Bredekamp, aber auch an die Verantwortlichen der Dr. Meyer-Struckmann-Stiftung und der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf richten. Und erlauben Sie mir, an die Adresse der beiden letztgenannten Institutionen die etwas vorlaute, wenn nicht gar freche Anregung hinzuzufügen: Die Theorie des Bildakts beruht auf Horst Bredekamps Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2007 (es gibt eben keine Zufälle...!). Könnten Stiftung und Fakultät nicht gemeinsam z. B. «Meyer-StruckmannVorlesungen» etablieren, um solchen großartigen Köpfen wie Horst Bredekamp nicht nur im Nachhinein einen solchen wohlverdienten Preis, sondern auch im Vorhinein die Ruhe und Muße für die Entwicklung einer so bahnbrechenden Theorie wie der des Bildakts zu gewähren?! Das wäre doch des Schweißes der Edlen und des Geldes des nicht minder edlen Stifters wert!

Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (geb. 1949)

Staatssekretär für Kultur des Landes NRW 2005–2010. Kulturdezernent der Stadt Düsseldorf 1992–2005.

  • [1]

    Reinbek, Rowohlt 2006.

  • [2]

    Frankfurt, Suhrkamp 2010.

  • [3]

    Über die Unverständlichkeit. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 2. Bd., München/Paderborn/Wien/Zürich 1967, S. 363–372, hier S. 366).

  • [4]

    Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 326.

  • [5]

    Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 328.

  • [6]

    Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 52.

  • [7]

    Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 56.

  • [8]

    Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 248.

  • [9]

    Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 224–230.

  • [10]

    Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 228.

  • [11]

    Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 230.

  • [12]

    Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 230.

  • [13]

    Horst Bredekamp, Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Aufsätze und Reden. Hg. v. Jörg Probst. Berlin 2007. S. 136–156.

  • [14]

    Horst Bredekamp, Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Aufsätze und Reden. Hg. v. Jörg Probst. Berlin 2007. S. 141.

  • [15]

    Horst Bredekamp, Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Aufsätze und Reden. Hg. v. Jörg Probst. Berlin 2007. S. 156.

  • [16]

    Sämtliche Werke, Bd.V, hg. v. Gerhard Fricke und Herbert H. Göpfert, 9. durchges. Aufl. (WBG) München 1993 S.570–669.

  • [17]

    Italo Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. München/Wien 1993, S. 128.

  • [18]

    Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch.Frankfurt a.M. 1987, S. 125.

  • [19]

    Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, 3. Aufl. Stuttgart 1993, S. 111.