Sehr geehrte Frau Rektorin Steinbeck, Herr Dekan Rosar, sehr geehrter Herr Präsident Kaiser, Herr Präsident Löwer, liebe Eva Schlotheuber, meine Damen und Herren.

Wir haben es mit einer Zeit beschleunigten gesellschaftlichen Wandels zu tun. Die sozialen Unterschiede verschärfen sich; es gibt Gewinner und Verlierer des Wandels. Viele fühlen sich durch die wirtschaftliche Dynamik abgehängt und sehen ihre altvertrauten kulturellen Selbstverständlichkeiten bedroht. Ein Thema beherrscht den gesamten gesellschaftlichen Diskurs und wirkt in einem bisher unbekannten Ausmaß polarisierend; es provoziert jeden Einzelnen zur eindeutigen Parteinahme. Die Spaltung verläuft quer durch jedes Land, jede Stadt, jede soziale Schicht, mitunter sogar quer durch die Familien. Gemäßigte, vermittelnde Stimmen haben es immer schwerer, sich Gehör zu verschaffen. Die gemeinsame Basis an geteilten Überzeugungen und Verfahren, auf der man sich über die feindlichen Lager hinweg verständigen kann, wird immer schmaler. Diese Polarisierung wird erleichtert und verschärft durch die neuen Medien, deren strukturelle Auswirkungen auf alle Bereiche der Gesellschaft von einer kaum zu ermessenden Tragweite sind. Der Ton in diesen neuen Medien ist von einer erschreckenden Polemik; die persönlichen Verunglimpfungen überschreiten jedes Maß. Dabei lebt jede Seite in ihrer eigenen medialen Blase von Ressentiment, Angst und Hass, und mit physischen Gewaltausbrüchen ist jederzeit zu rechnen.  

Meine Damen und Herren, die Zeit, von der ich spreche, kommt Ihnen vermutlich bekannt vor. Ich spreche natürlich vom 16. Jahrhundert, von der Zeit der Glaubensspaltung und konfessionellen Polarisierung. Aber es fällt leicht, Parallelen zu dem zu entdecken, was wir derzeit erleben. Jeder Historiker sieht ja mit anderen Augen auf eine fremde Epoche und findet andere Phänomene darin wieder. Im Zuge des Lutherjahres ist die Reformation gern als Durchbruch der modernen individuellen Freiheit gefeiert worden, und dabei ist eher in den Hintergrund geraten, wie sehr sie die Gesellschaft gespalten und polarisiert hat. Aber schon ein kurzer Blick auf die Illustrierten Flugblätter dieser Zeit vermittelt einen lebhaften Eindruck davon, wie emotional aufgeladen und hemmungslos die Debatte damals geführt wurde. Das Galgenmotiv kennen wir von populistischen Demonstrationen ja auch. Es gibt zahlreiche andere Beispiele, die vor Augen führen, wie hasserfüllt und polemisch, ja obszön es dabei zuging. Beliebt war auch die Darstellung der Gegner als mit dem Teufel im Bunde. Im Extremfall erschienen Mönche und  Papst – der Antichrist – als Ausgeburten, ja wortwörtlich: Ausscheidungen des Teufels. (Eine vergleichbare Darstellung aus heutiger Zeit, die man ebenfalls im Internet finde, erspare ich Ihnen an dieser Stelle.) Das gilt nicht nur für die visuellen und verbalen Darstellungen in den Medien, sondern auch für die rituellen Protestaktionen. Verglichen mit den Schand- und Schmähritualen der Reformationsepoche können einem die symbolisch-rituellen Artikulationsformen unserer Zeit – sei es von rechts oder von links – fast harmlos erscheinen.

Martin Luthers Theologie befeuerte die Polarisierung der Gesellschaft. Wo vorher eine diffuse Unzufriedenheit verbreitet gewesen und eine vielstimmige Reformdebatte geführt worden war, die sich an vielerlei einzelnen Missständen abarbeitete und dabei auch verzettelte, brachte gerade Luther die Dinge auf lauter sehr einfache und eindeutige Gegensätze: Evangelium oder Menschenwerk, ewiges Leben oder ewige Verdammnis, Christus oder Antichristus. Der Kirchenhistoriker Berndt Hamm hat treffend von „normativer Zentrierung“ gesprochen[1]: Keine Zwischentöne mehr, keine moderate Kritik, keine Kompromisse, keine Stufenleiter zum Seelenheil – sondern klare Alternativen, eindeutige Entscheidungen waren auf einmal gefragt: Glaube oder Unglaube, im Sinne von Matthäus 5, 37: „Eure Rede sei Ja, Ja, Nein, Nein! Was darüber ist, das ist vom Übel.“ Durch die geniale Nutzung des neuen Mediums Buchdruck verbreitete sich diese neue Eindeutigkeit und spaltete die Gesellschaft. Wer nicht für die eine oder andere Seite Partei nehmen wollte, wie etwa Erasmus oder Melanchthon oder auch der Herzog Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg, also der hiesige Düsseldorfer Landesherr, der einen Mittelweg zwischen altem Glauben und evangelischer Bewegung suchte, alle sie sahen sich zunehmend auf verlorenem Posten.

Wohlgemerkt: Mit dem Hinweis auf diese überraschende Parallelität zwischen dem 16. und dem 21. Jahrhundert will ich selbstverständlich nicht sagen, dass die Lage im 16. Jahrhundert mit unserer heutigen gleichzusetzen wäre. Ganz im Gegenteil: Ich finde dieses 16. Jahrhundert äußerst fern, fremd und befremdlich. Was ich sagen will, ist vielmehr: Es gibt bei aller Unterschiedlichkeit gelegentlich strukturelle Analogien, und diese Analogien zu verfolgen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, schult die Urteilskraft, es schafft Distanz und schärft den Blick gerade für die Besonderheit der eigenen Gegenwart. Ich will die Epoche von Reformation und Konfessionsbildung gar nicht näher an uns heranrücken, eher im Gegenteil:  Ich will damit die Sicht auf unsere eigene Gegenwart ein wenig relativieren und verfremden. Denn wer nichts anderes kennt als seine eigene Gegenwart, kennt auch diese Gegenwart nicht richtig. Eine solche historische Perspektive erlaubt es vielleicht, gegenwärtige Phänomene etwas gelassener zu betrachten, sicher aber, sie strukturell besser zu verstehen und einzuordnen.

Gerade die Geschichte der Frühen Neuzeit, also grob gesagt die Zeit von etwa 1500 bis 1800, scheint mir dazu in besonderem Maße geeignet.

Dieser Epoche ist ja der Meyer-Struckmann-Preis in diesem Jahr gewidmet. Damit komme ich zu dem Anlass meiner Rede. Ich habe die außerordentliche Ehre und Freude, mich bei der Stiftung und der Jury für diesen Preis zu bedanken, dessen bisherige Empfänger eine ehrfurchtgebietende Reihe bilden. Ich fühle mich wirklich über die Maßen geehrt, mich nun selbst in diese Reihe gestellt zu sehen. 

Jedes Jahr wird eine andere Disziplin gewählt, und diesmal nun eben die Geschichte der Frühen Neuzeit – eine noch ziemlich junge Teildisziplin. Erst seit den 1960er Jahren hat sie sich in der deutschen Geschichtswissenschaft als solche etabliert. Wie für jede historische Periodisierung kann man gute Argumente ebenso dafür wie dagegen finden. Man kann zum Beispiel mit guten Gründen den Zäsurcharakter der Reformation relativieren und die Kontinuität zum Mittelalter (selbst ein in vieler Hinsicht anfechtbarer Epochenbegriff) herausarbeiten. Periodisierungen sind immer eine Frage des Blickwinkels und die Debatten darüber grundsätzlich unentscheidbar. Das gilt für die Sicht auf die Frühe Neuzeit, also grob gesagt die drei Jahrhunderte zwischen 1500 und 1800, in besonderem Maße. Dieser Zeitabschnitt zeigt ein ganz unterschiedliches Gesicht, je nachdem, ob man ihn in die Kontinuität des späten Mittelalters stellt  oder rückschauend die Anfänge der Moderne darin sucht. Beides kann man tun. Die Frühe Neuzeit hat ein ausgeprägtes Doppelgesicht: in vieler Hinsicht noch sehr fremd, fast archaisch, jedenfalls vormodern, und in anderer Hinsicht zugleich schon sehr modern – je nach Blickwinkel. Sie ist sozusagen die Kippfigur unter den Epochen. Das ist es, was mich an dieser Zeit von jeher besonders fasziniert hat. 

Ich habe lange überlegt, mit welchem Thema ich Ihnen einen kleinen Einblick in diese Zeit geben könnte, und habe mich entschlossen, ein Thema herauszugreifen, das, wie ich finde, etwas von der spezifischen Eigenart der Epoche einfängt; ein Thema, das die Zeitgenossen damals intensiv beschäftigt hat und das uns auch heute, wenn auch auf ganz andere Weise, wieder sehr beschäftigt: das Thema Lüge und Verstellung nämlich.

Wie eingangs erwähnt: Wir leben in einer Zeit wachsender gesellschaftlicher Polarisierung. Wir beobachten, dass zwei entgegengesetzte Extreme sich gegenseitig verstärken: Auf der einen Seite wird zunehmend hemmungslos, offen und ungeniert gelogen, gehetzt, gedemütigt und herabgewürdigt. Auf der anderen Seite, und in auffälligem Gegensatz dazu, wird von der Gegenseite eine extrem übersensibilisierte politische Sprachkontrolle betrieben; überall werden Sprachverbote und -gebote aufgestellt, denen selbst die Gutwilligsten kaum gerecht werden können. Die Polarisierung hat zur Folge, dass für jeden Einzelnen der Zwang zunimmt, sich eindeutig zu der einen oder der anderen Seite zu bekennen. Ein solcher Bekenntniszwang aber schürt Gesinnungskontrolle und Konformismus, und damit auch Verstellung und Heuchelei.

Die Frage, wo die moralisch gebotene und sozial stabilisierende Verstellung aufhört und die moralisch unzulässige und sozial zerstörerische Lüge anfängt, stellt sich in jeder Gesellschaft und jeder historischen Epoche. Aber: Verschiedene Kulturen und Epochen unterscheiden sich durchaus darin, wie sie mit dieser Frage umgehen. Normen, Werte und Verhaltensregeln sind ja nicht zu allen Zeiten gleich. Unter unterschiedlichen sozialen und politischen Umständen erscheint auch Anderes als moralisch geboten oder verboten, verzeihlich oder unverzeihlich. Die Geschichte der Diskurse über Wahrheit und Lüge, Verbergen und Verstellen zeigt, dass es gewisse historische Konjunkturen, ein periodisches Auf und Ab von Aufrichtigkeitspathos und Verstellungskunst gibt.   

Die mittelalterliche christliche Tradition war durch das rigide Lügenverbot des Kirchenvaters Augustinus gekennzeichnet. Man unterschied drei Arten von Lügen: Die erste ist die Lüge zu einem guten Zweck, die zweite ist die unernst gemeinte Lüge, die dem Vergnügen dient (also die dichterische Fiktion), die dritte ist die Lüge in böser Absicht, um jemandem zu schaden. Nur die letztere war eine Todsünde – aber Sünden waren sie alle. Allerdings war in der christlichen Tradition auch immer klar, dass der schwache, sündige Mensch dieses strenge Wahrheitsgebot nicht erfüllen kann. In der Frühen Neuzeit, im 16. und 17. Jahrhundert, erlebte dann die Lehre von der Verstellung eine auffällige Hochkonjunktur, während sie im Laufe des 18. Jahrhunderts wieder zunehmend verpönt wurde und sich stattdessen ein neues Ideal von absoluter Aufrichtigkeit durchsetzte.

Die europäische Kultur- und Ideengeschichte der Frühen Neuzeit  lässt sich geradezu als Geschichte der Versuche schreiben, das überaus strenge augustinische Wahrheitsgebot zu modifizieren, zu relativieren oder zurückzunehmen – und zwar  auf drei unterschiedlichen Feldern: erstens in der politischen Theorie, zweitens in der ‚Höflichkeitslehre‘ im engeren Sinne des Wortes, d.h. in der Lehre der Umgangsformen und Verhaltenslehren am Hof, und drittens im Bereich der Religion, auf dem Feld der konfessionellen Auseinandersetzungen. Auf allen drei Feldern wurde das Thema Aufrichtigkeit oder Verstellung in der Frühen Neuzeit – d.h. zwischen etwa 1500 und 1800, zwischen Reformation und Revolution – ganz besonders virulent und besonders heftig diskutiert. Ich beschränke ich mich auf exemplarische, ganz prominente Beispiele.

Zuerst zur politischen Klugheitslehre. Am Anfang der frühneuzeitlichen Geschichte vom Lügen steht ein massiver Tabubruch: nämlich Niccolo Machiavellis Ratschlag an den Herrscher, im Namen der politischen Klugheit und des Machterhalts zu lügen und zu betrügen, wenn es sein muss. Das Vorbild ist der listige Fuchs. In dem berüchtigten 18. Kapitel des Buches vom Fürsten („Inwieweit Herrscher ihr Wort halten sollen“) heißt es: „Ein kluger Machthaber kann und darf sein Wort nicht halten, wenn ihm das zum Schaden gereichen würde.“ „Doch muss man sich darauf verstehen, die Fuchsnatur gut zu verbergen und Meister der Heuchelei und Verstellung zu sein.“[2] Dabei sei vor allem der Anschein von Gottesfurcht besonders notwendig. „So muss der Herrscher milde, treu, menschlich, aufrichtig und fromm scheinen und er soll es gleichzeitig auch sein; aber er muss auch die Seelenstärke (virtù) besitzen, im Fall der Not alles ins Gegenteil wenden zu können.“ Um die Herrschaft zu behaupten – das ist der höchste und letzte Zweck – kann es notwendig und zulässig sein, „gegen Treue, Barmherzigkeit, Menschlichkeit und Religion zu verstoßen.“[3] Eine Umkehrung aller Werte, wie man sieht: In der Konkurrenz zwischen den Forderungen der Religion und denen des Machterhalts siegen die letzteren.

Man muss den Kontext beachten, in dem Machiavelli dies schrieb. Die alte Welt der Adelsherrschaft war in Bewegung geraten, nicht zuletzt durch strukturellen Wandel aufgrund von zunehmender Geldwirtschaft und neuer Militärtechnik. Italien war seit 1495 der Boden, auf dem der Kaiser und der französische König ihre Herrschaftskonkurrenz austrugen. Die Verhältnisse in der politisch kleinteiligen Welt der italienischen Republiken und Fürstentümer waren vollkommen instabil, städtische Revolten, politische Usurpationen und Aufsteiger prägen das Bild dieser Zeit. (In Florenz, wo Machiavelli schrieb, war er selbst Opfer der einander rasch wechselnden Regimes.) Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass Machiavelli mit der alten Tradition bricht, wonach Fürstenspiegel, also Ratgeber für den Herrscher, sich stets am Ideal orientieren, also an der Norm unerschütterlich festhalten, ganz gleich, wie sehr immer wieder dagegen verstoßen werden mag. „Wären die Menschen alle gut, so wäre dieser Vorschlag nicht gut; da sie aber schlecht sind, und das gegebene Wort auch nicht halten würden, hast du auch keinen Anlass, es ihnen gegenüber zu halten“, heißt es.[4]Machiavelli verzichtete also auf eine normative Position und tat das Gegenteil: Er ignorierte das Ideal und orientierte seine Ratschläge an der empirischen Erwartung, dass die anderen politischen Akteure die Norm ebenfalls nicht einhalten. Denn wenn niemand sein Handeln mehr an der Norm orientiert, ist der Rat, die Norm zu beachten, politisch nicht mehr klug.  Man muss vielmehr in Rechnung stellen, dass man selbst betrogen wird, und deshalb selbst der erste sein, der betrügt.  Das aber war ein Tabubruch: Moralische Norm und politische Klugheit, das moralisch Gute und das politisch Nützliche, traten auseinander und schienen nicht mehr vereinbar. Damit, so hat man das später gesehen, begründete Machiavelli die Autonomie der Politik gegenüber Moral und Recht.   

Es handelt sich um ein Paradox: Indem Machiavelli unumwunden zu Lüge und Verstellung riet, schrieb er selbst dies mit größtmöglicher und bis dahin unbekannter Freimütigkeit. Genau das war sein Fehler. Er hatte gewagt, das Unsagbare zu sagen.  Das konnte man nicht im Raum stehenlassen. Alle Welt fiel über Machiavelli her; das Buch wurde zweimal auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, jedermann war bemüht, die einmal freimütig ausgesprochene empirische Wahrheit wieder aus der Welt zu schaffen, um der Norm wieder zur Geltung zu verhelfen. 

Es entwickelte sich eine eigene Literaturgattung, die diese Quadratur des Kreises versuchte: die Lehre von der ratio status, die „Staatsräsonlehre“, die auf antik-heidnische Quellen wie Plutarch, Cicero, Tacitus und Seneca zurückgriff. Man bemühte sich, die Norm – das Lügenverbot – mit der empirischen Wirklichkeit – dem tatsächlichen alltäglichen Betrug – wieder in ein erträglicheres Verhältnis zu setzen. Dazu musste man allerdings die Norm selbst etwas abmildern. Es begann die lange ideengeschichtliche Reihe derjenigen, die Machiavelli – in einem Atemzug – einerseits als Teufel verketzerten und andererseits aber durchaus seine Lehre in abgemilderter Form fortschrieben. 

Man traf jetzt feine Unterscheidungen. Wesentlich wurde die Unterscheidung zwischen simulatio und dissimulatio (eine Unterscheidung, die man im Deutschen sprachlich so einfach nicht treffen kann). Die simulatio ist ein aktives Tun, eine Vortäuschung von etwas, das nicht ist. Die dissimulatio hingegen ist nur ein Unterlassen, ein passives Verschweigen und Verheimlichen dessen, was ist. Simulation ist also die aktive Lüge, Dissimulation die passive Verstellung.  Letztere war erlaubt, ja oft sogar geboten: Man sprach von der „ehrenwerten Verstellung“.[5]  Doch im Rahmen der Staatsräsonlehre wurde durchaus auch die explizite Lüge, die simulatio, erlaubt, wenn sie einem vernünftigen und guten Endzweck diente, und dieser Endzweck war eben die ratio status, die Staatsvernunft. Nur handelte es sich dabei eben um arcana status, also einen Bereich, über den sich die Untertanen kein Urteil erlauben durften und der vor ihnen zu verbergen war. Die Politik als Klugheitslehre unterschied sich damit, wie gesagt, explizit von dem, was für die Allgemeinheit gelten sollte, also von der Moral und von der Religion. „Politisch“ wurde im 17. Jahrhundert in Deutschland – nicht zufällig – zum Schimpfwort, zu einem Synonym für List und Verschlagenheit.   

Mit Simulation und Dissimulation war – das ist wichtig festzuhalten – niemals nur das verbale Sprechen gemeint, sondern auch die Körpersprache, die eloquentia corporis. Man war sich sehr genau bewusst – denn das war Bestandteil der klassischen rhetorischen Kunstlehre –, dass man nicht nur mit Worten, sondern auch mit Mienen, Gebärden und Körperhaltung „sprechen“ - und daher auch täuschen und lügen kann. Aber man wusste auch, dass es leichter ist, mit Worten zu lügen als mit dem Körper, und dass es ganz besonderer Selbstkontrolle bedarf, den eigenen Körper so zu beherrschen, dass er nicht durch unwillkürliche Zeichen mehr von dem verrät, was man im Inneren denkt und fühlt, als man selbst verraten will.  

Damit komme ich auch schon zu dem zweiten Feld, auf dem die Lehre von Aufrichtigkeit, Lüge und Verstellung eine zentrale Rolle spielte: dem Feld der höfischen und allgemeinen sozialen Verhaltenslehren.

Ihren Höhepunkt fand die Klugheitslehre der Dissimulation zweifellos bei dem spanischen Jesuiten Balthasar Gracián, dessen Aphorismensammlung mit dem Titel „Hand-Orakel oder Kunst der Weltklugheit“ von 1647 – ebenso wie Machiavellis „Fürst“ – extrem erfolgreich war und zugleich extrem angefeindet wurde und dem Autor die größten Schwierigkeiten bis hin zur Verfolgung durch die Inquisition einbrachte.  

Denn auch Gracián trug einer sozialen Realität Rechnung, die zutiefst durch allseitiges Misstrauen geprägt war. Der soziale Kontext seiner Lehre war der frühneuzeitliche Fürstenhof, an dem alle letztlich von der Gunst und Gnade des Fürsten abhingen und wechselseitig darum konkurrierten. Jeder suchte seinen Vorteil in den höfischen Patronage-Strukturen potentiell auf Kosten anderer; dabei konnten die Allianzen und Gegnerschaften immer ganz schnell wechseln; der Freund von heute konnte morgen schon der Feind sein. Im höfischen Alltag kam es deshalb darauf an, dass man seine eigenen Pläne und Absichten vor allen anderen verborgen hielt, zugleich aber umgekehrt die Pläne und Absichten der anderen so früh, unbemerkt und vollständig wie möglich zu entschlüsseln suchte. Die allgegenwärtige Metapher des höfischen Daseins ist das Kartenspiel, bei dem alle gegen alle spielen, jeder seinen Vorteil auf Kosten der anderen sucht und niemand sich in die Karten sehen lässt. So rät Gracián: „Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm […]. Man ahme den göttlichen Willen nach, indem man die Leute in Vermutungen und Unruhe erhält.“[6] Der weise Mann zieht sich zurück in Schweigen und versteht es, das verborgenste Innere der anderen zu entziffern. Zugleich weiß er sich selbst perfekt zu kontrollieren, seine Gefühle nie zu offenbaren und sich wechselnden Verhältnissen und Moden anzupassen, um im äußerlichen Verhalten den Erwartungen der Anderen zu entsprechen. Laster waren wenn nicht zu vermeiden, so geheim zu halten. Niemandem, selbst nicht dem Freund, solle man seine Fehler anvertrauen – „ja sich selber solle man sie, wenn es sein könnte, verbergen.“  Denn: „Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind, sondern für das, was sie scheinen. […] Was nicht gesehen wird, ist, als ob es nicht wäre.“[7]

Selbstverständlich kam alles darauf an, die Verstellung ihrerseits zu verbergen: „Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung“ [8], denn durch eine einzige Lüge verliere man den Ruf der Unbescholtenheit. Es war (und ist) das grundlegende Paradox: Die perfekteste Verstellung muss wie perfekte Aufrichtigkeit aussehen. Wenn man das aber weiß, kann man auch umgekehrt Aufrichtigkeit wie Verstellung erscheinen lassen. Gracián hat diese grundlegende Aporie der Verstellungskunst wie kein anderer zuvor auf den Punkt gebracht. Die Technik der Dissimulation kann am Ende selbst die wahre Aussage in eine Täuschung verwandeln. „Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr, durch die Wahrheit selbst zu täuschen: Sie […] läßt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet.“[9] Das heißt: Der vollkommene Höfling täuscht, indem er die Erwartung der anderen, getäuscht zu werden, bereits in Rechnung stellt. Wenn er dann die Wahrheit sagt, wird niemand ihm glauben. Was objektiv eine wahre Aussage ist, kann also von der Intention her ein Betrug sein. Dem war mit der traditionellen christlichen Lügendefinition (nämlich in betrügerischer Absicht das Falsche zu sagen) überhaupt nicht mehr beizukommen.

Das Bewusstsein der allgegenwärtigen Dissimulation führt ein einen Kreislauf des Misstrauens, in eine kommunikative Sackgasse, aus der es am Ende keinen Ausweg mehr gibt: Wie soll man noch „kommunizieren, dass man aufrichtig kommuniziert“, wenn einmal der Verdacht in der Welt ist, dass Aufrichtigkeit nur die subtilste Verstellung sein könnte? Dass gerade die am echtesten wirkende Gefühlsäußerung eine besonders perfekte Inszenierung sein könnte?  Wer wirklich aufrichtig sein will, hat keine Chance, das zu kommunizieren. Das Dilemma ist:  Selbst wenn „wir authentisch sein wollen“, können wir „doch bestenfalls so wirken“.[10] Aus dieser einmal erkannten Aporie menschlicher Kommunikation kommt man seither nicht mehr heraus (auch wenn die Aufklärung das später mit ihrer Forderung nach authentischer, unverstellter Natürlichkeit und Echtheit versuchte. Aber alle Rhetorik der Aufrichtigkeit blieb eben – und das hatte man im 17. Jahrhundert erkannt – Rhetorik.)  

Man hat es also mit einem kommunikativen Teufelskreis des sich wechselseitig steigernden Misstrauens zu tun: Die Strategien der Wahrheitsermittlung einerseits und der Verschleierung andererseits beförderten sich gegenseitig. Je ausgefeilter die Techniken des Enthüllens der einen Wahrheit entwickelt wurden, desto elaborierter wurden zugleich die Techniken des Verbergens und Verstellens und umgekehrt. Beides bedingte und steigerte sich wechselseitig. Das 16. und 17. Jahrhundert war nicht nur das Zeitalter der Dissimulation, sondern auch das der politischen Spionagetechniken, der Kunst, die unwillkürlichen Körperzeichen zu entziffern, der Entwicklung von verfeinerten Verhör- und Befragungstechniken im Inquisitionsverfahren und im Beichtstuhl. 

Damit bin ich auch schon beim dritten und letzten Feld der Debatten über Lüge und Verstellung: der Religion. Es kennzeichnet nicht zufällig gerade das Zeitalter der Konfessionalisierung, dass der Diskurs um Lüge, Betrug und Verstellung Hochkonjunktur hatte. Warum?

Wie schon eingangs gesagt: Die Reformation hatte ein intensives Bemühen um rigide Vereindeutigung zur Folge. Nachdem es nicht gelungen war, die gesamte Christenheit im Sinne der Reformatoren zu „reformieren“, sondern die Spaltung unwiderruflich geworden war, kam es zu einer zunehmenden, auch politischen Polarisierung. Nach und nach bildeten sich die konfessionellen Lager heraus. Indem sie sich immer schärfer gegeneinander abgrenzten, gewannen sie selbst immer klarere und eindeutigere Identität. Dass sich mehrere distinkte Konfessionskirchen herauskristallisierten, war Ergebnis eines verschlungenen, konfliktreichen und keineswegs linearen Prozesses, der aber doch zeitweise eine starke Dynamik der wechselseitigen Abgrenzung nach außen und zugleich der Integration nach innen entfaltete. Ein wichtiges Mittel war das buchstäbliche Einschwören auf eine präzise, eben schriftlich fixierte Konfession, ein Glaubens-Bekenntnis. Es ging um eindeutige Definitionen (im wörtlichen Sinne: Grenzziehungen) zum Zwecke der klaren Abgrenzung und Vereinheitlichung nicht nur von sozialen Gruppen, sondern auch von politischen Gemeinschaften, und zwar nun eben mithilfe der Kriterien Glaubensbekenntnis, Glaubenswissen und Glaubenspraxis. Es entfaltete sich eine extreme Logik des Entweder/Oder.  So war man aus lutherischer Perspektive gewiss, dass „die beiden Herren, Jesus Christus und der Papst […] ganz und gar wider einander [laufen]“. Man zitierte im Hinblick auf die Vermischung von evangelischen und katholischen Praktiken Paulus‘ 2. Korintherbrief: „Ihr könnt nicht zugleich des Herrn und des Teufels theilhaftig sein. […] Denn was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis? Was hat Christus für Gemeinschaft mit Belial?“ [11]

Dieser Zwang zur Eindeutigkeit und Einhelligkeit, zur Ausmerzung von Zwischentönen und diffusen Übergangsfällen, von Kompromissen und Mittelpositionen, von Indifferenzen und Ambiguitäten aller Art, hat aber auch eine Kehrseite. Wir haben es hier – wie so oft in der Geschichte – mit einem dialektischen Wechselverhältnis zu tun. Denn es liegt auf der Hand, dass gerade der Zwang zu Einhelligkeit komplementäre Strategien des Verschleierns, Verbergens, Verstellens, der Heuchelei und absichtlichen Doppeldeutigkeit hervorbrachte. Deshalb ist es kein Wunder, dass der Diskurs über simulatiound dissimulatio im 16. und 17. Jahrhundert Hochkonjunktur hatte.

Die Glaubensspaltung führte dazu, dass sich die weltlichen Obrigkeiten stärker als zuvor um die Rechtgläubigkeit ihrer Untertanen zu kümmern begannen. Die Fürsten und ihre Räte befürchteten, dass religiöse Verschiedenheit Ruhe und Frieden im Gemeinwesen bedrohe und daher zu bekämpfen sei. Die Reformation führte auf diese Weise zu einer stärkeren politischen Kontrolle des Glaubens und der religiösen Praxis als je zuvor und damit aufs Ganze gesehen zu einer deutlichen Stärkung der weltlichen Obrigkeiten. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 formulierte für das Römisch-deutsche Reich bekanntlich den Grundsatz cuius regio eius religio, d.h. dieser Friedensvertrag eröffnete den Fürsten und Stadträten die Möglichkeit, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen. In Frankreich begann die Krone 1534, in mehreren Phasen und mit längeren Unterbrechungen, die reformatorische Bewegung gewaltsam zu bekämpfen. In England geschah das umgekehrt mit den Katholiken.

Damit stellte sich für die Anhänger der jeweiligen religiösen Minderheit die Frage, wie sie sich verhalten sollten. Es gab verschiedene Möglichkeiten: Man konnte auswandern, man konnte bleiben, bekennen, Nachteile im Alltagsleben oder Schlimmeres bis hin zu Galeerenstrafe oder gar Märtyrertod riskieren, oder man konnte sich äußerlich anpassen und sich verstellen, also dissimulieren. Dann aber stellte sich die Frage, ob das theologisch erlaubt oder eine Sünde sei. Durfte man im Herzen und vor Gott dem wahren Glauben anhängen, aber trotzdem äußerlich und vor den Augen der Menschen dissimulieren? Was war erlaubt, was nicht? Wo hörte die Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit auf und wo fing der verbotene Götzendienst an? Damit stellte sich die Frage nach der Zulässigkeit von Lüge und Verstellung in einer ganz anderen Dimension als in den beiden zuerst genannten Feldern. Es ging ja jetzt in erster Linie um die Kommunikation mit Gott, in zweiter Linie um die Kommunikation mit den Menschen. Darf man die Menschen nach außen belügen, um im Inneren vor Gott bei der Wahrheit zu bleiben?   

Die theologischen Antworten darauf waren sehr verschieden. Der Genfer Reformator Johann Calvin forderte von den verfolgten Glaubensbrüdern in Frankreich und anderswo ein kompromissloses, offenes Eintreten für das „wahre Evangelium“. Die äußerliche Teilnahme an den abergläubischen Zeremonien der Papisten sei Götzenverehrung und damit eine schwere Sünde. Sie lasse nur die Wahl zwischen Exil oder Martyrium.  Denn, so begründete Calvin seine Unerbittlichkeit, Gott habe ja nicht nur die Seele, sondern auch den Leib des Menschen erschaffen. Der Körper als „Tempel Gottes“ dürfe nicht durch äußerliche Verstellung beschmutzt werden, denn er sei „ganz zu Gottes Ehre bestimmt und vollständig rein zu halten“.[12]

Doch in dieser Frage war die reformatorische Bewegung gespalten. Die Lutheraner beriefen sich auf Paulus, der gelehrt hatte, dass man sich um des Evangeliums willen unter bestimmten Umständen den Gebräuchen der Juden wie der Heiden anpassen müsse (Römer 14 und 1 Korinther 8-10). Dahinter stand ein ganz anderes Verhältnis zwischen äußerlicher Gebärde und innerer Überzeugung als bei Calvin. Luther lehrte im Anschluss an Paulus, dass kein äußerliches Ding an sich heilig oder profan, rein oder unrein sei –­ also kein Ort, kein Tag, keine Speise, auch keine Gebärde –, sondern heilig oder unheilig werde etwas allein durch den richtigen oder falschen Glauben. Niemand, so folgerten viele bedrohte Protestanten daraus, riskiere wegen der bloß äußeren Befolgung papistischer Zeremonien sein Seelenheil und niemand dürfe daher wegen solch äußerlicher Anpassung verurteilt werden. Das sei vielmehr Gott überlassen, dem die Herzen der Menschen offenständen und den man gar nicht täuschen könne. Die Liturgie erschien in diesem Licht als reines Menschenwerk, als unwesentliche Äußerlichkeit, die man aus christlicher Freiheit befolgen könne oder auch nicht. Das war allerdings eine Auffassung, die einen unüberwindlichen Graben zwischen Körper und Seele, dem äußeren und dem inneren Menschen aufriss. Dabei wurde der Umstand unterschätzt, dass religiöse Identität als soziales Phänomen nie eine rein geistige Angelegenheit ist, sondern immer auch der sichtbaren, materiellen Gemeinschaft bedarf, also auf Objektivierung in gemeinsamen Ritualen, Gebäuden, Orten, Gegenständen usw. angewiesen ist.

Es gab also sehr verschiedene Vorstellungen über das Verhältnis zwischen äußerem Handeln und innerer Überzeugung, Ritus und Dogma, sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Die Fronten dazu verliefen nicht parallel zu den konfessionellen Lagern, sondern vielmehr quer dazu. Die Positionen variierten nicht selten mit den politischen Umständen, je nachdem, ob man sich in der Rolle der Obrigkeit oder der Verfolgten, in der Rolle der religiösen Mehrheit oder der Minderheit befand. Für die einen war es hinnehmbar, dass also die sichtbare Äußerung zu dem „im Herzen“ Gemeinten in Gegensatz stand; dass man sich also gegenüber den Menschen verstellte, weil Gott ja die Wahrheit kannte. Andere bestanden auf der notwendigen Übereinstimmung von körperlicher und geistiger Glaubenshaltung: Man müsse sich offen zur Wahrheit bekennen, wurde gefordert, die Gemeinschaft der wahren Gläubigen sollte auch nach außen sichtbar sein.

Auf katholischer Seite spielte in den Debatten über die Lizenz zu Lüge und Verstellung vor allem der Jesuitenorden (neben dem Dominikanerorden) eine wesentliche Rolle. Auch Gracián war ja übrigens Jesuit. Die Jesuiten waren aus unterschiedlichen Gründen geneigt, hinsichtlich des Umgangs mit der Wahrheit großzügig zu sein. Jesuitische Missionare in China oder Japan etwa sahen sich genötigt, sich der fremden Umwelt so weit wie möglich anzupassen, um die „Heiden“ für das Christentum zu gewinnenAls Beichtväter – vor allem an den Höfen katholischer Monarchen, aber auch gegenüber ganz gewöhnlichen Beichtkindern – waren sie genötigt, zwischen den strikten Moralgeboten und der Vielfältigkeit des tatsächlichen menschlichen Verhaltens zu vermitteln. Als Untertanen protestantischer Obrigkeiten und Opfer politischer Verfolgung, etwa in England, waren Jesuiten hingegen schon um der eigenen Verteidigung willen gezwungen, sich mit der Frage der erlaubten Lüge auseinanderzusetzen. Und schließlich spielten sie umgekehrt in Inquisitionsverfahren nicht selten selbst die Rolle der Verfolger. Es ist kaum ein Zufall, dass gerade diejenigen sich so intensiv mit Fragen von Lüge und Verstellung beschäftigten, die zugleich als Beichtväter und Inquisitoren mit den Praktiken zur Ermittlung der Wahrheit befasst waren. 

In diesem Kontext also entwickelten die Jesuiten eine sehr ausgefeilte Lehre von der Umgehung des strengen Augustinischen Lügenverbots – so ausgefeilt, dass dieses Verbot mitunter in sein Gegenteil verkehrt wurde. Dazu diente eine Reihe von Strategien, vor allem die reservatio mentis und der aequivocatio. Das Prinzip der reservatio mentis, des inneren Vorbehalts, besteht darin, dass man zwar eine unwahre Aussage macht, im Stillen bei sich dieser Aussage aber etwas hinzufügt, das sie zu einer wahren Aussage macht (z.B. eine Verneinung). Das heißt: nach außen gegenüber dem Hörer lügt man, im Inneren bei sich selbst (und gegenüber Gott) sagt man aber die Wahrheit. Was zählt, ist, was man im Inneren tatsächlich meint, nicht, was man äußerlich sagt.  

Die Strategie der aequivocatio bestand darin, dass man sich bewusst doppeldeutig ausdrückt, so dass der Zuhörer einen missverstehen muss. Ein Meineid, den man auf diese Weise leiste, sei keine Sünde.  Denn dann habe man ja trotz der Betrugsabsicht und des Betrugseffekts objektiv nichts Unwahres gesagt.  Über Bord geworfen wurde dabei allerdings die herkömmliche Definition der Lüge, die sich ja nach der betrügerischen Absicht des Lügenden bemisst und nicht nach der objektiven Wahrheit oder Unwahrheit der Äußerung.

Das lief darauf hinaus, das mittelalterliche Lügenverbot auszuhöhlen. Man konnte es aufgrund der hohen Autorität der Kirchenväter nicht einfach einschränken oder aufheben; man konnte es nur mit Tricks unterlaufen, während es formal aufrechterhalten blieb. Die Tricks bestanden letztlich darin, die Aufrichtigkeit gegenüber Gott von der Aufrichtigkeit gegenüber dem menschlichen Gegenüber zu trennen. Man darf nicht vergessen: Der historische Hintergrund dieser Strategie waren Glaubensverfolgung und Zwang zum konfessionellen Konformismus, die die europäische Geschichte dieser Zeit insgesamt prägten und die Einzelnen vor die Wahl stellten, entweder schwere Nachteile (im Extremfall den Tod) hinzunehmen oder sich eben zu verstellen, etwa einen falschen Konfessionseid abzulegen. Die Lehren von den verschiedenen Arten der erlaubten Lüge, Doppeldeutigkeit und Dissimulation erleichterten den Betroffenen das Leben und das Gewissen; sie schufen Freiräume zum Lavieren zwischen den konfessionellen Lagern. Das war umso notwendiger, als die Menschen immer wieder zu unfreiwilligem Konfessionswechsel genötigt waren: Wenn in einem Territorium die Herrscher die Konfession mehrfach veränderten und ihre Untertanen ebenfalls dazu zwangen; wenn in Territorien aufgrund von Kriegen oder Erbfolgeregelungen die Dynastie und damit auch die Landeskonfession wechselte; oder wenn man als Gelehrter,  Kaufmann, Handwerker usw. zu beruflicher Mobilität und zum Überschreiten der Konfessionsgrenzen gezwungen war. 

Die Strategien der Dissimulation waren aber äußerst zweischneidig. Sie unterminierten, und das war fatal, die Verständigung über Konfessionsgrenzen hinweg. Wie konnten Protestanten mit Katholiken noch einen Vertrag schließen und sich auf Vertragstreue verlassen, wenn jede Seite sich nur gegenüber Gott, aber nicht gegenüber dem Vertragspartner gebunden fühlte? Wenn religiöse Parteizugehörigkeit wichtiger war als Wahrheit? Die Dissimulation unterhöhlte die Grundlagen des Vertrauens in die menschliche Kommunikation, die ja nur funktioniert, wenn die Beteiligten zunächst einmal wechselseitige Aufrichtigkeit unterstellen.

Damit komme ich zum Schluss.

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, wieso die Frühe Neuzeit, das Zeitalter verschärfter Konfessions- und Mächtekonflikte, zugleich ein Zeitalter des intensiven Diskurses über Lüge, Heuchelei und Verstellung war.  Der Zwang zur konfessionellen Parteinahme hatte eine Dynamik der Vereindeutigung, des Konformismus und der Polarisierung ausgelöst. Das wechselseitige Misstrauen wuchs; Mittelwege und Kompromisslösungen gerieten unter Druck. Die Landesherren wollten möglichst homogene Untertanenverbände; religiöse Pluralität sollte ausgemerzt werden. Aber wurde sie das wirklich? Schaut man genauer hin, so zeigt sich: Gerade unter den Bedingungen eines erhöhten Konformitätsdrucks wird das erzeugt, was man ausmerzen will: innerer Widerstand, Abweichung, bewusste Zweideutigkeit, alle möglichen Formen des Dissimulierens und Verhehlens. Das gilt für alle drei hier behandelten Bereiche: Die Politik, das soziale Leben, die Religion. Je schärfer der Zwang zu Bekenntnis und Gesinnungstreue, desto elaborierter auch die Auswege. Wer Rechtgläubigkeit erzwingen will, produziert vor allem eines, nämlich Heuchelei.

Das zeigt sich noch deutlicher im Vergleich mit dem 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung. Als sich nämlich der konfessionelle Konformitätsdruck in den meisten europäischen Ländern allmählich lockerte, zugleich auch die soziale und intellektuelle Anziehungskraft der Fürstenhöfe zugunsten von anderen Geselligkeitsformen verblasste, wurde die Dissimulationslehre durch einen neuen Diskurs der Aufrichtigkeit abgelöst.

Lässt sich nun also von der Frühen Neuzeit etwas lernen? Indirekt ja, wie ich meine, nicht im Sinne von Verhaltensanweisungen, sondern im Sinne einer größeren reflexiven Distanz zur Gegenwart.

Damals wurde ein Grunddilemma menschlicher Kommunikation auf den Punkt gebracht: Die Menschen sind in ein verborgenes geistiges Innen und ein sichtbares körperliches Außen gespalten, und niemand kann je sicher sein, dass das eine das andere zuverlässig widerspiegelt. Selbst wenn man noch so authentisch sein will, weiß das Gegenüber nie, ob man vielleicht nur so wirkt. Der aufrichtigste Auftritt kann die vollkommenste Täuschung sein.  So unüberwindlich und unausrottbar die Spaltung zwischen Innen und Außen, so unausrottbar das Bedürfnis, sie zu überwinden. Doch dabei steht man vor einem Paradox: Je größer der soziale Druck zur Aufrichtigkeit, desto stärker die Tendenz zur Verstellung. Je mehr Zwang zu Konformismus und Eindeutigkeit, desto größer die Versuchung zu lügen.  

Allenfalls das äußere Handeln lässt sich kontrollieren. Jede Art von Gewissens- und Überzeugungsdruck bewirkt das Gegenteil von dem, was er bewirken soll. Gesetzestreue kann man vielleicht erzwingen, Gesinnungstreue aber nicht. Hier sind vielmehr Vertrauensvorschuss und Toleranz angezeigt. Diese Einsicht ist auch und gerade heute durchaus aktuell und scheint mir mehr denn je beherzigenswert.

Meine Damen und Herren, ich bedanke mich von Herzen für die Verleihung des Meyer-Struckmann-Preises – und für Ihre Aufmerksamkeit. 

  • [1]

    Berndt Hamm, Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: Zeitschrift für Historische Forschung 26/ 2 (1999), S. 163-202.

  • [2]

    Niccolò Machiavelli, Der Fürst.‚Il Principe‘, hrsg. und übers. von Wolfgang Zorn, Stuttgart 1978, Kap. XVIII, S. 71-74.

  • [3]

    Ebd. S. 73.

  • [4]

    Ebd. S. 72.

  • [5]

    So z.B. der Titel des Werkes von Torquato Accetto, Della dissimulazione honesta (1641), dt. Ausg.: Von der ehrenwerten Verhehlung, Berlin 1995.

  • [6]

    Baltasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit. In der Übers. von Arthur Schopenhauer neu hrsg. von Sebastian Neumeister, 14., vollständig überarb. Auflage, Stuttgart 2013.

  • [7]

    Ebd. S. 50.

  • [8]

    Ebd. S. 111.

  • [9]

    Ebd. S. 10.

  • [10]

    Adam Soboczynski, Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung, Berlin 2008, S. 22.

  • [11]

    So zum Beispiel die lutherischen Hoftheologen des Herzogs von Braunschweig im Jahr 1579, publiziert von Eduard Bodemann, Die Weihe und Einführung des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig als Bischof von Halberstadt und die damit verbundenen Streitigkeiten 1578-1580, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 43 (1878), S. 266 f.

  • [12]

    Johann Calvin, Studienausgabe, hrsg. von Eberhard Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1999, Bd.3, S. 224 f.