Nun also der Programmpunkt „Dank und Vortrag“. Ich muss gestehen: Ich bin als Preisträger wenig geübt, und daher habe ich mich nach Verhaltensmodellen umgeschaut. Die Oscar-Preisverleihung kam natürlich nicht infrage. Der Glamour-Faktor ist nicht ganz vergleichbar. Einem anderen Modell sind einige meiner VorgängerPreisträger gefolgt, indem sie eine Frage beantworteten, von der sie annahmen, dass sie sich die Festversammlung stellt, die Frage nämlich: Womit hat der den Preis verdient? Wieder andere haben die Gelegenheit genutzt, um einen Einblick in das Wissenschaftsgebiet und die Forschungsinteressen des Preisträgers zu geben. Ich folge einer Mischung aus beiden Modellen und wähle dabei eine diachronische Perspektive, das heißt, ich blicke zurück und zeige einige Entwicklungen, aber auch einige Konstanten auf, und deute ein paar aktuelle Bezüge an.

Zuallererst möchte ich mich bei der Philosophischen Fakultät und der Jury des Meyer-Struckmann-Preises sehr herzlich dafür bedanken, dass sie mich gekürt haben. Besonderen Dank auch für die lobenden Worte von Ihnen, Frau Rektorin Steinbeck, von Ihnen, Herr Professor Kaiser, und von Ihnen, Herr Dekan Rosar.

Ich gestehe, dass mich die Mitteilung, Preisträger zu sein, nicht nur überrascht, sondern zunächst etwas irritiert hat. Irritiert hat mich, dass der Preis für Medienwissenschaften ausgelobt ist. In Deutschland ist es inzwischen üblich, als Medienwissenschaft den eher kulturwissenschaftlich orientierten Wissenschaftszweig zu bezeichnen, der eine Nähe zu Theater- und Literaturwissenschaft hat. Ich verstehe mich aber als empirisch arbeitenden Sozialwissenschaftler. Medienwissenschaftler wäre allerdings auch nicht so ganz verkehrt, weil Medientheorie und Medialisierung ein Schwerpunkt meiner Arbeiten ist, seit meiner Habilitation mit einer medientheoretischen Arbeit. Im Übrigen lautet die Denomination des Preises ja Medienwissenschaften im Plural, er ist also, so vermute ich, wissenschaftstheoretisch nicht festgelegt.

Der Streit über die wissenschaftstheoretische Orientierung und die Fachbezeichnung tobte lange in unserer akademischen Fachgesellschaft. Daraus resultierte schließlich ein Selbstverständnispapier, in dem es heißt: „Die Kommunikations- und Medienwissenschaft versteht sich als theoretisch und empirisch arbeitende Sozialwissenschaft mit interdisziplinären Bezügen.“ Gleichwohl nennt sich die Fachgesellschaft „Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft“, abgekürzt DGPuK, und bewahrt damit auch noch immer die ganz alte Fachbezeichnung im Namen, nämlich Publizistik. Die Verwirrung wird noch größer, wenn man sich die Vielfalt an Etikettierungen des Faches in der Universitätslandschaft anschaut. Das nährt natürlich Zweifel, wie sie oft geäußert wurden, ob man überhaupt von einem Fach mit eigener Identität sprechen könne, zumal es eine Vielzahl an Gemeinsamkeiten mit anderen Sozialwissenschaften gibt. Das manifestiert sich unter anderem in interdisziplinären Arbeitsfeldern wie z. B. Medienpsychologie, Mediensoziologie, Medienökonomie.

Auf der anderen Seite wird die Identität der Kommunikations- und Medienwissenschaft auch bestimmt durch ihre Ausbildungsleistung für ein bestimmtes Berufsfeld, nämlich für Tätigkeiten in Journalismus, Werbung und Public Relations, Medienforschung und Medienmanagement. Daraus resultiert allerdings auch eine etwas fragwürdige Ambivalenz, auf die ich zum Schluss noch zu sprechen komme. Für Kommunikations- und Medienwissenschaftler, die sich als empirische Sozialwissenschaftler verstehen, gilt wie für alle empirischen Wissenschaftler: Sie gleichen Zwergen auf den Schultern von Riesen. Das Bild stammt nicht von Google – auch wenn es auf der Einstiegsseite von Google Scholar steht; das Bild sollen schon Gelehrte des 12. Jahrhunderts verwendet haben. Weniger metaphorisch meint das: Kommunikationsforschung ist kumulative Forschung. Sie baut auf den Erkenntnissen anderer Wissenschaftler auf, auch auf den Erkenntnissen, den Theorien und Methoden benachbarter Fächer. Das ist allgemein bekannt, ich erwähne das hier, weil ich die Namen einiger Riesen, Halbriesen und Mitzwerge unbedingt nennen muss – aber natürlich nicht alle, auf deren Schultern ich balanciere.

Riesen in der Mythologie sind gemeinhin männlichen Geschlechts. In der Wissenschaft gibt es aber auch weibliche Riesen. Ich nenne Elisabeth Noelle-Neumann, und zwar deshalb, weil es zunächst ihre Schultern waren, auf denen ich das medienwissenschaftliche Terrain überblickte. Elisabeth Noelle, wie sie sich früher (und dann gegen Ende ihres Lebens wieder) nannte, war Lehrbeauftragte an der Freien Universität (FU) Berlin, als ich bei ihr ab dem Wintersemester 1961/62 drei Semester lang Seminare über Umfrageforschung und Leseranalyse besuchte, und zwar zum Preis von insgesamt fünfzehn DM – das waren die Studiengebühren, die damals für jede besuchte Veranstaltung einzeln berechnet wurden. Es war eine lohnende Investition. In den Seminaren unternahmen wir mit Unterstützung des Allensbacher Instituts für Demoskopie eine repräsentative Umfrage unter den Studierenden der FU, die dann die Datengrundlage für meine soziologische Diplomarbeit wurde, eingereicht im Mai 1964 bei Ludwig von Friedeburg, dem späteren SPD-Kultusminister in Hessen.

Die Mitarbeit in den Noelle-Seminaren brachte mir das Angebot meiner ersten Stelle ein als Assistent an der Universität Mainz, wo Frau Noelle im Wintersemester 1964/65 eine Professur bekam. Zu den angenehmeren Aufgaben eines jungen Assistenten gehörte es damals auch, jeden Montag einen Blumenstrauß zu besorgen für den Schreibtisch der „Frau Professor“, wie sie allgemein genannt wurde. Das trug wesentlich zu meiner Fertigkeit im Arrangieren von Blumensträußen bei. Eine Hauptaufgabe der ersten Mainzer Jahre war es, die amerikanische Kommunikationsforschung aufzuarbeiten. Die Entwicklung in Deutschland war ja im Frühstadium stecken geblieben und im Nationalsozialismus ganz abgewürgt worden. Wieder Anschluss zu gewinnen war auch eines der Ziele des Fischer-Lexikons Publizistik, das wir 1971 herausbrachten und das seitdem in mehreren, immer mehr erweiterten Neuauflagen erschien, seit 1989 auch unter Mitherausgeberschaft von Jürgen Wilke.

Im Fischer-Lexikon und in Mainzer Lehrveranstaltungen spielte neben bekannten Riesen wie Paul Lazarsfeld und Carl Hovland auch ein damals in der Bundesrepublik weniger bekannter Autor namens Walter Lippmann eine Rolle. Walter Lippmann war ein sehr einflussreicher amerikanischer Publizist der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Als ich vor einigen Wochen gefragt wurde, welchen Titel ich diesem meinem Vortrag geben werde, habe ich gesagt: Die Medien und die Bilder in unseren Köpfen. Dieser Titel nimmt Bezug auf Lippmanns 1922 erschienenes Buch „Public Opinion“.[1] Dessen Einleitungskapitel ist überschrieben „The world outside and the pictures in our heads“ – frei übersetzt: äußere Welt und innere Vorstellungen. Sein Buch ist streckenweise eine sehr kritische Auseinandersetzung mit der Qualität des Journalismus, gipfelnd in der Feststellung, – ich zitiere – „dass Nachrichten und Wahrheit nicht dasselbe sind und klar voneinander geschieden werden müssen“. Lippmann setzt sich mit einem Vorwurf auseinander, der immer wieder erhoben wird, aktuell von journalistischen Außenseitern wie etwa Udo Ulfkotte, von Wutbürgern auf dem Theaterplatz in Dresden und von Verschwörungstheoretikern und Trollen im Internet.

Nachrichtenqualität und Medienwirkung – das ist ein Thema, das auch die Kommunikationsforschung seit jeher umtreibt. Ich will das an einigen der bekanntesten Theorien und Konzepte zeigen. Diese Theorien und Konzepte dienen erstens dazu, die Arbeitsweise der Medien und ihren Einfluss auf die Bilder in unseren Köpfen zu erklären. Sie dienen zweitens dazu, empirische Untersuchungen anzuleiten. Die Untersuchungen haben oft ein aktuelles Thema oder Ereignis zum Anlass, häufig Krisen und Konflikte. Es geht dann darum herauszufinden, wie die Medien das aktuelle Geschehen den Bürgern vermitteln. Anlass ist daneben auch immer wieder der Wandel der Medien. Drittens dienen die Theorien und Konzepte dazu, die Berichterstattung kritisch zu beobachten und zu analysieren; sie leisten Medienkritik auf wissenschaftlicher Grundlage. Und viertens schließlich können sie auch sozialtechnische Absichten leiten, also den Einsatz der Medien in Werbung und Propaganda, in Aufklärungsund Wahlkampagnen. Denn, wie man weiß: Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. Darauf komme ich zum Schluss noch mal zurück.

Zunächst aber noch einmal zu Lippmann und seinem frühen Beitrag zu Theorien und Konzepten der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Lippmann geht davon aus, dass Aufmerksamkeit knapp ist. Das gilt heute als Binsenweisheit. Knapp ist sowohl die Aufmerksamkeit der Journalisten und der Medien, in denen sie veröffentlichen, wie auch des Publikums. Die Medien müssen daher aus einer Vielzahl von Ereignissen auswählen, und dabei orientieren sie sich an Stereotypen. Lippmann übernahm den Begriff Stereotyp aus der Zeitungstechnik und gab ihm die heute übliche Bedeutung: Stereotype sind verfestigte subjektive Sichtweisen, die den Blick auf die Wirklichkeit prägen und manchmal auch verstellen.

Wenn Stereotype den Blick der Medien auf die Wirklichkeit prägen, widerspricht das der naiven Annahme, dass das, was aktuell und was wichtig ist, den Nachrichtenwert von Ereignissen bestimmt. Beide Auswahlkriterien – Aktualität und Wichtigkeit – spielen zwar eine Rolle, allerdings nur vordergründig. Denn für die journalistische Praxis sind diese Kriterien zu ungenau, zu abstrakt. Daher orientieren sich die Medien, die Reporter und Redakteure vor allem an konkreteren Auswahlkriterien.

Kriterium ist zum Beispiel, ob eine wirtschaftlich oder militärisch bedeutsame Region betroffen ist, ein zweites ob das Geschehen von Tragweite ist für das eigene Land, die Leser, Hörer, Zuschauer, ein drittes ob einflussreiche, prominente Personen beteiligt sind. Ein weiteres bedeutendes Auswahlkriterium ist Negativismus, also ob es Konflikte und Kontroversen, Personenoder Sachschäden, Gewalt oder Kriminalität gibt. Diese und noch einige andere Auswahlkriterien entscheiden über den Nachrichtenwert eines Ereignisses, also darüber, ob es von den Medien beachtet und berichtet wird. Je mehr dieser Kriterien – oder Stereotype – zutreffen, desto größer ist der Nachrichtenwert und desto ausführlicher und redaktionell auffälliger wird das Ereignis berichtet.

Gut 40 Jahre nach Lippmann haben norwegische Friedensforscher dieses Forschungsthema fortgeführt und theoretisch formalisiert. Die Norweger betonen vor allem, dass Stereotype, die sie nun Nachrichtenfaktoren nennen, nicht nur als Selektionsfilter dienen. Sie bewirken zugleich eine Verzerrung der Berichterstattung, und zwar dadurch, dass die Aspekte, die ein Ereignis nachrichtenwürdig machen, in den Nachrichten hervorgehoben und oft auch übertrieben dargestellt werden, während andere wegfallen oder nur am Rande aufscheinen. Die daraus entstehende Verzerrung ist umso größer, je länger die Nachrichtenkette ist vom Ort des Geschehens bis hin zum Redakteur in der Zeitung, im Radio, im Fernsehen. Die norwegischen Friedensforscher wollten zeigen, dass die verzerrte Berichterstattung über fremde Länder, dass vor allem die Akzentuierung von Negativismus, internationale Krisen und Konflikte befördern können. Den politischen Hintergrund dafür bildeten die Konflikte der 1960er Jahre im Kongo, in Kuba und in Zypern.[2] Man könnte das auch sehr gut an aktuellen Beispielen illustrieren, etwa anhand der Ukraine- und der Griechenland-Krise.

Seit den Tagen von Lippmann und den norwegischen Friedensforschern ist die Nachrichtentheorie, die ich hier sehr vereinfacht dargestellt habe, weiterentwickelt worden, und zwar vor allem in der europäischen scientific community – unter Beteiligung von einigen hier Anwesenden. So hat Christiane Eilders gezeigt, welche Rolle Nachrichtenfaktoren bei der Rezeption der Nachrichten durch das Publikum spielen.[3] Jürgen Wilke hat Kriterien der Nachrichtenauswahl historisch über vier Jahrhunderte zurückverfolgt.[4] Ich selbst habe mit meiner Studie „Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien“ unter anderem einen breiten Medienvergleich der Nachrichtenauswahl unternommen.[5] Mathias Kepplinger hat hervorgehoben, dass für die Nachrichtenauswahl nicht allein Ereignismerkmale, sondern auch die Vorstellungen und Vorurteile der Journalisten ausschlaggebend sind.[6]

Dieser Aspekt – die Person des Journalisten und sein Weltbild – spielt in einem anderen Erklärungsmodell die zentrale Rolle, und zwar in dem bekannten Gatekeeper-Modell. Die Metapher des Gatekeepers sieht im Journalisten den Torwärter, der über den Zugang der Ereignisse in die Medien entscheidet, und zwar nach Maßgabe seiner Stereotype, nach subjektiven, auch politischen Vorlieben und Abneigungen. Und dabei geht es ihm auch darum, das Publikum zu beeinflussen, überspitzt gesagt: politisch zu manipulieren. In der ersten Gatekeeper-Fallstudie 1950 wurde der damals beobachtete Redakteur bei einer Zeitung im Mittleren Westen der USA direkt nach seinen Kriterien für die Nachrichtenauswahl gefragt. Er bekannte ganz freimütig seine Vorurteile, nämlich die Abneigung gegen Trumans Wirtschaftspolitik und gegen die katholische Kirche.[7]

Man kann in der Nachfolge von Lippmanns Stereotypen auch ein relativ modernes Konzept sehen, für das die Bezeichnung Framing international üblich ist. Es wurde in der Kommunikationsforschung in den 1990er Jahren gebräuchlich, in der Psychologie und in der Soziologie schon früher.[8] Framing bezieht sich sowohl auf die Mediendarstellung von Ereignissen und Themen wie auch auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Medieninhalten durch das Publikum. Framing – wörtlich übersetzt also Rahmung – bezeichnet, einfach gesagt, den Blickwinkel der medialen Darstellung, die Ursachen und Folgen des Geschehens, die der Bericht aufzeigt. Um das an einem aktuellen Beispiel zu verdeutlichen: Die gegenwärtige Migrationsbewegung in Europa kann man unter dem Blickwinkel ihrer politischen Ursachen betrachten, auch der Schicksale einzelner Flüchtlinge, des Leids besonders von Kindern. Bei einem anderen Framing richtet sich der Blick auf die Hilflosigkeit und Kontrollverluste politischer Entscheider, denen es nicht gelingt, Grenzen wirksam zu kontrollieren und Schlepper zu bekämpfen. Das sind unterschiedliche Blickwinkel auf dasselbe Phänomen, die auch jeweils unterschiedliche Eindrücke bei den Mediennutzern hervorrufen, unterschiedliche Bilder in ihren Köpfen.

Andere Modelle und Konzepte heben stärker noch als die bisher betrachteten auf die Folgen verzerrter Medienbilder ab für die Gesellschaft und für das politische System. Das wohl bekannteste Beispiel ist das Agenda-Setting-Modell, das zur Erklärung von Kampagneneffekten eingesetzt wird, seit sich das Fernsehen in den 1960er Jahren zum dominierenden Wahlkampfmedium entwickelte.[9] Agenda-Setting-Studien analysieren auf der einen Seite die Themenagenda der Medien, also wie die Medien einzelne Themen gewichten und akzentuieren, indem sie diese verschieden häufig beachten und verschieden auffällig herausstellen. Auf der anderen Seite wird in Umfragen eine Themenrangordnung der Bevölkerung ermittelt, etwa mit der Frage: „Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste Problem in Deutschland?“ Das ist als Beispiel die Frage aus den Politbarometer-Erhebungen des ZDF. Wenn die Themenagenda mit der Publikumsagenda weitgehend übereinstimmt, gilt das als Indiz dafür, dass die Bevölkerung die Relevanz und Dringlichkeit aktueller Themen aus der Berichterstattung ableitet. In neueren Studien wird die Beziehung zwischen den beiden Agenden mit elaborierten Paneloder Zeitreihenanalysen überprüft. Wenn es so ist, dass die Medien die Publikumsagenda und die Agenda des politischen Systems präformieren, hat das auch Folgen für Wahlentscheidungen und für die Dringlichkeit, mit der verschiedene Themen im politischen Prozess bearbeitet werden.

Politische Folgen sind letztlich auch der Kern einer Erklärung für den Einfluss der im Fernsehen vermittelten Weltbilder auf die Zuschauer. Der Ansatz mit dem Etikett Cultivation wurde um 1970 formuliert und dann zunächst auf die Programme des amerikanischen kommerziellen Fernsehens mit viel trivialer Unterhaltung, viel Gewalt und Kriminalität angewandt.[10] Der extrem angestiegene Konsum dieses Programmangebots hat zur Folge, so lautet die Cultivation-These, dass die Fernsehzuschauer wesentliche Elemente ihres Weltbildes aus dem Fernsehen beziehen. Das Fernsehen kultiviert u. a. die Vorstellung von einer bedrohlichen Welt und das Bedürfnis nach law and order. Dieser Effekt ist besonders auffällig bei Vielsehern.

Prämisse dieser These ist die zunehmende Medienabhängigkeit von Individuen und Gesellschaften. Medienabhängigkeit ist auch die Prämisse des Modells der Schweigespirale, das Elisabeth Noelle-Neumann entwickelte und das zum größten Exportschlager der deutschen Kommunikationswissenschaft wurde.[11] Das Modell ist ziemlich komplex. Ich will nur auf ein zentrales Element hinweisen, nämlich auf die Annahme der Konsonanz des Mediensystems. Gemeint ist damit, dass Presse, Radio und Fernsehen gelegentlich ein Thema sehr einheitlich darstellen und bewerten. Das konsonante Medienbild kann dann eine soziale Dynamik in Gang setzen, in deren Verlauf sich die Meinung der Bevölkerung tatsächlich dem von den Medien vermittelten konsonanten Meinungsbild angleicht. Am Rande und als Reverenz an die hiesigen Kollegen erwähne ich eine ganz aktuelle Studie der Kollegen Philipp Henn und Gerhard Vowe, die der Frage nachgeht, wie konsonant das Bild ist, das deutsche Medien von Terrorismus, Kriminalität und Katastrophen vermitteln.[12]

Zurück zu den 1970er Jahren und zu den Zeiten des Monopols öffentlich-rechtlicher Fernsehprogramme. Elisabeth Noelle-Neumann unterfütterte ihre Konsonanz-These zunächst mit Umfrageergebnissen, aus denen deutliche Unterschiede hervorgingen zwischen Viel und Wenigsehern von politischen Fernsehsendungen. Dass dies womöglich Folge des politischen Framings der Fernsehsendungen war, dafür fanden sich dann auch Belege in Inhaltsanalysen der Programme. Einen Beleg, der damals heiß diskutiert wurde, lieferte Mathias Kepplinger mit einer Analyse der – wie er es nannte – „optischen Kommentierung“ in politischen Fernsehsendungen von ARD und ZDF im Vorfeld der Bundestagswahl 1976.[13] Parallel zu der Analyse befragte er Kameramänner des Fernsehens. Diese bekannten, dass sie mit der Wahl bestimmter Kameraperspektiven ganz bestimmte Wirkungsabsichten verfolgen. Die Bildanalyse der Fernsehauftritte des damaligen Kanzlers Helmut Schmidt und seines Herausforderers Helmut Kohl zeigte dann, dass diese mit unterschiedlichen Kameraperspektiven dargestellt waren, die entsprechend den Einschätzungen der Kameramänner im Fall des Kanzlers eher günstig waren, im Falle des Herausforderers eher ungünstig.

Kepplingers Untersuchung wie auch Noelle-Neumanns Konsonanz-These spielten damals eine Rolle im politischen Meinungsstreit über den Einfluss des Fernsehens auf die Bundestagswahl 1976. Sie wurden gern von der CDU/CSU aufgegriffen und für ihre Pläne in Anspruch genommen, neben dem öffentlich-rechtlichen auch privatkommerziell betriebene Radio und Fernsehsender einzuführen. Die damals regierende sozialliberale Koalition war aber strikt dagegen. In der heftigen medienkritischen Debatte empfahl Bundeskanzler Helmut Schmidt Enthaltsamkeit, und zwar einen fernsehfreien Tag pro Woche. Erwogen wurde außerdem die Errichtung eines Instituts zur Erforschung der Medienwirkung. Weder das eine noch das andere wurde realisiert, wohl aber – nach der politischen Wende 1982 – die Einführung des privaten Rundfunks, der 1984 in Betrieb ging.

In diesem politischen Klima installierte die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Beratungsgremium, genannt Senatskommission für Medienwirkungsforschung, dessen Vorsitz mir angetragen wurde. Parallel dazu bemühte sich die DGPuK um die Errichtung eines Sonderforschungsbereichs zu Medienwirkungen. Es reichte dann zwar nur für eine etwas kleinere Variante, nämlich für ein sogenanntes Schwerpunktprogramm, immerhin das erste größere DFG-geförderte medienwissenschaftliche Forschungsprogramm. Da ich die Federführung bei der Antragstellung hatte, wurde mir auch die Programmkoordination übertragen. Das Programm trug den Titel „Publizistische Medienwirkungen“, hätte aber auch heißen können: Die Medien und die Bilder in unseren Köpfen.

Ich will auf die Projekte oder gar Befunde des Forschungsprogramms nicht weiter eingehen.[14] Erwähnen will ich aber wenigstens ein Highlight, das gut in meine Argumentation passt, und zwar die Untersuchungen zum Einfluss nonverbaler Kommunikation, deren Ergebnisse Siegfried Frey sehr eindrucksvoll in seinem Buch mit dem Titel „Die Macht des Bildes“ beschreibt.[15] Die Macht von Bildern, das zeigen die Untersuchungen von Frey wie auch von Kepplinger, besteht vor allem darin, dass sie beeinflussen können, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, und oft auch ohne dass wir uns dem Einfluss entziehen können. Aktuelle Beispiele dafür mit weitreichenden Folgen sind das Stinkefinger-Bild des gescheiterten Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, das Bild vom Leichnam des dreijährigen Aylan Kurdi am Strand von Bodrum, oder die bildliche Inszenierung von Enthauptungen durch IS-Krieger.

Inzwischen entwickelte sich eine breite Forschung zu Instrumenten und Wirkungen des visuellen Framings, wie das heute auch genannt wird. Besonderes Augenmerk richtet sich dabei auf die bildliche Darstellung von Politikern, speziell der Kanzlerkandidaten im Wahlkampf, und das vor allem deshalb, weil sich die meisten Wähler eine Vorstellung von den Kandidaten, die zur Wahl stehen, nur anhand ihres Medienimages machen können. Sie sind also, mit anderen Worten, darauf angewiesen, welches visuelle Framing ihnen die Medien bieten, und auch darauf, welchen Einfluss die Politiker und Parteien auf dieses Framing nehmen können.

Die Einführung des Internets und mobiler, multifunktionaler Endgeräte verstärkten zuletzt ganz erheblich den Visualisierungstrend, der ein Kennzeichen der Medienentwicklung ist. Das Internet – insbesondere seit seiner Entwicklung zum Web 2.0 – wurde dabei zur Veröffentlichungsplattform für jedermann. Um die Bilder in unseren Köpfen konkurrieren nun nicht mehr nur die professionellen Nachrichtenanbieter, sondern auch unzählige Bürgerjournalisten und Blogger, Regierungen und Parteien, Verbände und Organisationen, aber auch viele Trolle und Fälscher.

In der Frühzeit des Internets wurde vor allem die Informationsvielfalt des neuen Mediums gepriesen. Das führe zur Ermächtigung der Mediennutzer, so das Argument, und zur Entmachtung der professionellen Gatekeeper und Agenda-Setter. Die Nutzer haben nun Zugriff auf eine bisher nie gekannte Vielfalt und dabei auch auf genau die Informationen, die sie speziell interessieren. Professionelle Webanbieter verstärken inzwischen diese Tendenz, indem sie den Nutzern personalisierte Inhalte bieten, die genau ihren Präferenzen entsprechen. Diese haben sie aus Daten der Nutzer und ihren Informationsinteressen, ihrem Kaufund Konsumverhalten abgeleitet.

Seit einiger Zeit mehren sich jedoch kritische Äußerungen zu den Segnungen des Internets, denn es bietet auch die Möglichkeit, dass die User im Web nur ihre vorgefassten Ansichten – ihre Stereotype – bestätigt finden, dass sie sich in einer Filter-Blase bewegen.[16] Das Konzept der Filter-Blase, auch Echo-Kammer genannt, gab Anlass für die Revitalisierung einer These aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, der These minimaler Medienwirkungen.[17] Dieser These zufolge müssen wir gar nicht befürchten, dass die Medien die Bilder in den Köpfen der Menschen prägen, weil die Menschen nur das in den Medien wahrnehmen, was zu ihren Prädispositionen passt, was ihre Stereotype bestätigt. Im Internetzeitalter müssen wir allerdings befürchten, dass sich Teile der Bevölkerung in der Filter-Blase ihrer Stereotype verkapseln, dass es zur sozialen Fragmentierung und politischen Polarisierung kommt. Anzeichen dafür gibt es, aber klare empirische Befunde meines Wissens noch nicht, die Diskussion ist im Gang.

Vor dem Hintergrund des neueren Medienwandels reüssiert in der wissenschaftlichen Diskussion ein Konzept, das Medialisierung oder auch Mediatisierung genannt wird. Ich bin daran nicht ganz unbeteiligt.[18] Gemeint ist mit Medialisierung vordergründig die Proliferation und Allgegenwart der Medien und die mediale Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche. Lippmann ging um 1920 von 15 Minuten Zeitunglesen täglich aus, und das war praktisch die gesamte Nutzung aktueller Medien der Bevölkerung. Heute widmen die Bürger im Durchschnitt über fünf Stunden täglich der Nutzung tagesaktueller Medien. Allerdings entfällt davon nur ein kleiner Teil auf das Zeitunglesen; Radio, Fernsehen und Internet nehmen weit mehr unserer täglichen Aufmerksamkeit in Beschlag.[19]

Interessanter als der Zeitverbrauch und die Aufmerksamkeitsbindung durch die Medialisierung sind deren Folgen. Zum einen haben inzwischen Mediennutzung und mediale Interaktion das soziale Handeln in vielen privaten und öffentlichen Bereichen ergänzt oder sogar ersetzt. Musikhören ersetzt Musikmachen, Kochshows im Fernsehen ersetzen das Selberkochen, Chatten per Smartphone ersetzt das Gespräch mit Freunden und Verwandten. Zum anderen neigen wir dazu, die Kommunikationsbedingungen und spezifischen Leistungen der Medien zu antizipieren und unser Verhalten von vornherein darauf einzurichten. Im Privaten sind Medien ein willkommenes Mittel der Lebensgestaltung. Das Radioprogramm gestaltet die Zeit beim Autofahren, die Fußballübertragung die Planung für die Woche und Google Maps die Fahrtroute in den Urlaub. Für viele ältere Menschen taktet das Fernsehen den gesamten Tagesablauf.

Von größerer Reichweite ist aber die Orientierung an den Bedingungen und an der Logik medialer Kommunikation im öffentlichen Raum. Am auffälligsten ist das da zu beobachten, wo mediale Aufmerksamkeit, wo Publizität eine wichtige Ressource ist, also vor allem in der Politik. Hier haben die für die Öffentlichkeitsarbeit und das Campaigning Zuständigen das theoretische Repertoire der Kommunikations- und Medienwissenschaft längst adaptiert. Die Kampagnenmanager und Spin-Doktoren, auch einzelne Politiker, profitieren davon, wenn nicht auf direktem Wege, so doch vermittelt über ihre Medienberater und Coaches, über spezielle Leitfäden und Handbücher. Auf diesem Wege diffundiert medienwissenschaftliches Wissen darum, wie man Events zurichten muss, damit sie einen hohen Nachrichtenwert bekommen, wie man durch geschicktes Agenda-Building Themen lanciert und besetzt, wie man das Framing eines aktuellen Themas so gestaltet, dass es den eigenen Interessen dient.

Damit komme ich zurück zu den eingangs erwähnten Funktionen wissenschaftlicher Theorien. Theorien dienen der Erklärung sozialer Phänomene, der Anleitung empirischer Untersuchungen, der kritischen Beobachtung der Wirklichkeit und schließlich auch als Grundlage sozialtechnischer Maßnahmen. Auf diese vierte Funktion bezogen sich meine letzten Bemerkungen und Beispiele. Die Theorien und Konzepte, die ich hier vorgestellt habe, sind ja ausgesprochen praktisch. Deshalb spielen sie auch eine Rolle im Berufsfeldbezug, den ich eingangs erwähnte, und in den Ausbildungsangeboten der Kommunikations- und Medienwissenschaft.

Dieselben Theorien und Konzepte haben aber ebenso eine kritische Funktion, sie beziehen sich auf potentiell problematische Medienentwicklungen oder sollen helfen, durch wissenschaftliche Analysen Probleme aufzudecken. Ganz augenscheinlich ist das bei allen hier vorgestellten Theorien der Fall, bei denen zur Nachrichtenauswahl, beim Gatekeeping und Agenda-Setting, beim Framing Konzept, beim Modell der Schweigespirale, bei den Cultivation und Konsonanz-Thesen. Die kritische und die sozialtechnische Funktion stehen aber ganz offensichtlich in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Und daraus resultiert eine typische Ambivalenz der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Denn mitunter sind wir an den Problemen, die wir in kritischer Absicht aufklären wollen, nicht ganz unschuldig, weil sie durch den sozialtechnischen Einsatz medienwissenschaftlicher Erkenntnisse entstanden.

  • [1]

    Lippmann, Walter (1922): Public opinion. New York: Harcourt, Brace.

  • [2]

    Galtung, Johan und Mari Holmboe Ruge (1965): The structure of foreign news. The presentation of the Congo, Cuba and Cyprus crises in four Norwegian newspapers. In: Journal of Peace Research 2, S. 64–91.

  • [3]

    Eilders, Christiane (1997): Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Information. Opladen: Westdeutscher Verlag.

  • [4]

    Wilke, Jürgen (1984): Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft. Berlin, New York: de Gruyter.

  • [5]

    Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg: Alber.

  • [6]

    Kepplinger, Hans Mathias (1998): Der Nachrichtenwert der Nachrichtenfaktoren. In: Christina Holtz-Bacha, Helmut Scherer und Norbert Waldmann (Hrsg.), Wie die Medien die Welt erschaffen und wie die Menschen darin leben. Für Winfried Schulz. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 19–38.

  • [7]

    White, David M. (1950): The “gatekeeper”. A case study in the selection of news. In: Journalism Quarterly 27, S. 383–390.

  • [8]

    Entman, Robert M. (1993): Framing: Toward clarification of a fractured paradigm. In: Journal of Communication 43 (4), S. 51–58.

  • [9]

    Trenaman, Joseph und Denis McQuail (1961): Television and the political image: A study of the impact of television on the 1959 general election. London: Methuen. McCombs, Maxwell E. und Donald L. Shaw (1972): The agenda-setting function of mass media. In: Public Opinion Quarterly 36, S. 176–187.

  • [10]

    Gerbner,GeorgeundLarryGross(1976):Livingwithtelevision.Theviolenceprofile. In: Journal of Communication 26 (2), S. 173–199.

  • [11]

    Noelle-Neumann, Elisabeth (1980): Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. München: Piper.

  • [12]

     Henn, Philipp und Gerhard Vowe (2015): Facetten von Sicherheit und Unsicherheit. Welches Bild von Terrorismus, Kriminalität und Katastrophen zeigen die Medien? In: Medien & Kommunikationswissenschaft 63, S. 335–340.

  • [13]

    Kepplinger, Hans Mathias (1980): Optische Kommentierung in der Fernsehberichterstattung über den Bundestagswahlkampf 1976. In: Thomas Ellwein (Hrsg.), Politikfeld-Analysen 1979. Wissenschaftlicher Kongreß der DVPW 1.–5. Oktober 1979 in der Universität Augsburg. Tagungsbericht. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 163–179.

  • [14]

    Schulz, Winfried (Hrsg.) (1992): Medienwirkungen. Einflüsse von Presse, Radio und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft. Untersuchungen im Schwerpunktprogramm „Publizistische Medienwirkungen“. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft.

  • [15]

    Frey, Siegfried (1999): Die Macht des Bildes. Der Einfluss der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik. Bern: Hans Huber.

  • [16]

    Pariser, Eli(2011):The filterbubble.What the Internet is hiding from you.London: Viking.

  • [17]

    Bennett, W. Lance und Shanto Iyengar (2008): A new era of minimal effects? The changing foundations of political communication. In: Journal of Communication 58, S. 707–731.

  • [18]

    Schulz,Winfried(2004):Reconstructing mediatization as an analytical concept.In: European Journal of Communication 19, S. 87–101. Schulz, Winfried (2014): Mediatization and new media. In: Frank Esser und Jesper Strömbäck (Hrsg.), Mediatization of politics. Understanding the transformation of Western democracies. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 57–73.

  • [19]

    Engel, Bernhard und Christian Breunig (2015): Massenkommunikation 2015: Mediennutzung im Intermediavergleich. Ergebnisse der ARD/ZDF-Langzeitstudie. In: Media Perspektiven (7–8), S. 310–322.