Sehr geehrter Prof. Dr. Münkler!

I.
Wir kennen uns jetzt schon 30 Jahre und sind in die Jahre gekommen. Sie waren 1979 junger Assistent von Iring Fetscher in Frankfurt, ich junger Professor an der Pädagogischen Hochschule Neuss, hier um die Ecke. Ich war frisch bestallter Chefredakteur der «PVS», der Politischen Vierteljahresschrift, Sie mussten die Arbeit für «Ihren Professor», der Redaktionsmitglied war, erledigen. Wir haben beide dadurch viel gelernt, nämlich unser ganzes Fach zu überblicken. Das hat uns nicht geschadet, auch wenn «Generalist» sein als Schimpfwort gilt. Ich bekenne mich dazu, ich bin kein General oder Offizier geworden, wie meine Vorfahren. Aber ich bin auch kein Spezialist, kein Korinthenzähler oder Erbsenevaluierer geworden. Und Sie auch nicht. Vielleicht gehen Sie nicht so in die Breite wie ich – aber dafür mehr in die Tiefe. Und hier haben Sie ein ganz immenses Repertoire.

II.
In diesem Jahr begehen wir in Deutschland mehrere für unsere nationale Geschichte und Identität bedeutende Jahrestage. 2000 Jahre Varusschlacht, 90 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 70 Jahre Kriegsbeginn, 60 Jahre Grundgesetz, Bundesrepublik und DDR-Gründung, 20 Jahre Mauerfall.

Grund genug, uns zu fragen, wer wir Deutschen eigentlich sind. Was hat uns und unsere Gesellschaft geprägt? Welche Marksteine und Wendepunkte passierten wir auf unserem wechselvollen Weg in die Moderne? Der diesjährige Träger des Dr. Meyer-Struckmann-Preises, Prof. Dr. Herfried Münkler, geht genau diesen Fragen in seinem Werk immer wieder auf den Grund und prägt dabei weit über seine Fachdisziplin hinaus die politischen Debatten und die öffentliche Meinung dieses Landes.

Geboren im hessischen Friedberg 1951 machte der junge Münkler erstmals 1981 als Ideenhistoriker von sich reden. Seine Dissertation über die politische Theorie Machiavellis, in der er das politische Denken der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz heraus begründet, gilt heute als Standardwerk. 2004 neu aufgelegt, ist das Buch noch immer die beste Machiavelli-Biografie in deutscher Sprache. In geradezu meisterhafter Manier verknüpft Münkler hierin Werk und Wirken seines Helden mit der Geschichte der Stadt Florenz an der Schwelle zur Moderne. Verknüpft ist das Schicksal beider – des Philosophen und der Republik – mit dem Sturz und der Rückkehr der Medici, die Machiavelli, in dem sie einen ihrer Hauptwidersacher erblickten, 1512 in die Verbannung schickten. Hier schreibt er seine beiden Hauptwerke: den berühmt-berüchtigten «Il Principe» und die häufig zu wenig beachteten «Discorsi». Ich veranstalte in diesem Semester einen «Masterkurs» zum Thema «Politikberatung». Und wo beginnen wir? Natürlich bei Machiavelli.

Wie wir wissen – nicht zuletzt dank Herfried Münkler –, ist Machiavelli von der Nachwelt häufig fälschlicherweise als düsterer und skrupelloser Zyniker der Macht interpretiert worden. Im Gegensatz zu dieser einseitigen Perspektive verweist Münkler zu Recht auch auf das emanzipatorische Potenzial der Theorie Machiavellis, der die Krise als Chance zur politischen Erneuerung auffasste und, indem er den Staat erstmals als legitimes Zwangsinstrument gegen die egoistischen Sonderinteressen der Einzelnen begriff, zum Begründer der modernen Staatsidee wurde. In seiner Habilitation, die er 1987 im Alter von 36 Jahren ebenfalls an der GoetheUniversität Frankfurt am Main vorlegte, spann Herfried Münkler diesen Faden konsequent weiter, indem er nun die «Staatsraison» als einen Leitbegriff der frühen Neuzeit identifizierte.

Ebenfalls in die Frankfurter Zeit fällt die Arbeit an dem fünfbändigen Nachschlagewerk «Pipers Handbuch der politischen Ideen», das Münkler gemeinsam mit seinem akademischen Lehrer, dem großen liberalen Historiker des Marxismus, Iring Fetscher, herausgegeben hat. Dieses Kompendium, das in keiner Fachbibliothek fehlen darf, markiert einen Meilenstein in der Entwicklung der Politischen Theorie und Ideengeschichte in Deutschland. Dabei enthält der Titel eine glatte Untertreibung. Denn keinesfalls bescheiden sich die Herausgeber – und die vielen anderen namhaften Bearbeiter der einzelnen Abschnitte – mit einer bloßen Darstellung politischer Ideen. Vielmehr werden diese minutiös in ihren jeweiligen politischen und sozialen, historischen und wirtschaftlichen Kontext eingeordnet. Zwischen zwei Polen entsteht dergestalt ein elektrisierendes Spannungsfeld: zum einen das Verständnis der Ideen aus sich selbst heraus, zum anderen ihre Erklärung aus den jeweiligen soziokulturellen Rahmenbedingungen.

Dieses instruktive Arrangement hat einen hohen Standard gesetzt und kann es auch heute noch – mehr als 20 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Bandes – mit den gängigen State-of-the-Art-Titeln der Disziplin locker aufnehmen. Denn Fetscher und Münkler beschränkten sich nicht auf die chronologische Darbietung eines im Grunde immer gleichen Kanons großer Denker und deren klassischer Texte, sondern zeigten gewissermaßen «überzeitliche» Fragestellungen und Probleme menschlichen Zusammenlebens auf. Dass die Politik dabei wie selbstverständlich auch aus ökologischen und feministischen Perspektiven beleuchtet wurde, hat zum Erfolg dieser Reihe genauso beigetragen wie der konsequent interkulturelle Ansatz, der, über das politische Denken Europas hinaus, auch die gedanklichen Entwicklungen in anderen Teilen der Welt – etwa in Indien, China oder Ägypten – kenntnisreich in den Blick nahm. Wenn ich einem Studierenden Literatur zum Prüfungsthema «Politische Theorien» empfehle, so steht der Fetscher-Münkler immer im Regal griffbereit.

III.
Heute sind es besonders die Mythen, die für Münkler das Selbstbewusstsein einer Nation ausmachen. Vor allem in Zeiten der Depression geben Mythen Zuversicht und Orientierung. Angesprochen auf sein neuestes Opus Magnum, «Die Deutschen und ihre Mythen», das im März mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2009 ausgezeichnet wurde, sagte Münkler kürzlich in einem Interview mit dem SPIEGEL in Bezug auf sich und seine Landsleute: «Wir haben weder Mythen noch Mythenerzähler, das ist bedrohlich in einer Zeit wie dieser. Eine Politik, die ohne Emotionen daherkommt, die Herzen der Menschen nicht erreicht, kann auf Dauer nicht funktionieren.» Er hat dabei wohl noch nicht an Merkel und Westerwelle gedacht, die auch ohne eine große Erzählung

ihre neue Bundesregierung kürzlich gestartet haben.

Mit Appellen an das Herz tut man sich im Ausland leichter. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise erinnerte US-Präsident Obama die Amerikaner an die Tugenden der Gründerväter. Die Engländer blicken noch immer stolz auf ihre lange Geschichte als Seefahrernation und das britische Empire zurück. Und in Frankreich lebt die Erinnerung an die Ideale der großen Revolution von 1789 und den Sturm auf die Bastille fort. Und was haben wir? Gibt es eigentlich einen deutschen Gründungsmythos?

Wie wäre es mit einer 2000 Jahre alten Schlacht zwischen römischen Legionen und einem Heer aufständischer Germanen in der Nähe von Kalkriese, im heutigen Osnabrücker Land? Vielleicht. Allerdings: Über die Vereinnahmung des Cheruskerfürsten Arminius, der sich selbst sicher nicht als Deutscher fühlte, spottete im 19. Jahrhundert bereits Heinrich Heine, Düsseldorfs bekanntester Sohn und Säulenheiliger der hiesigen Universität. Im «Wintermärchen», das 1844 kurz nach dem Baubeginn des Hermannsdenkmals erschien, lesen wir folgende Zeilen:

Das ist der Teutoburger Wald, Den Tacitus beschrieben,
Das ist der klassische Morast, Wo Varus stecken geblieben.Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, Der Hermann, der edle Recke;
Die deutsche Nationalität,
Die siegte in diesem Drecke.Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann, Mit seinen blonden Horden,
So gäb es deutsche Freiheit nicht mehr,
Wir wären römisch geworden!

Ob Heines Zeitgenossen die volle Ironie des Poems verstanden? Schließlich war es mit der deutschen Freiheit für Heine selbst nicht allzu weit her. Ein wenig mehr Romanisierung hätte den «blonden Horden» aus der Sicht des frankophilen Sprachkünstlers bestimmt nicht geschadet. Verdankten die alten, schlammfüßigen Germanen, die noch in den Wäldern lebten, nicht alle kulturellen Wohltaten den gebildeten Römern? Der römische Historiker Tacitus sah das Verhältnis differenzierter und machte für die Niederlage der Römer, deren urbane Dekadenz er kritisieren wollte, vor allem die «Sittlichkeit der Hinterwäldler» verantwortlich. Deren kaltes, sumpfiges Land sei zwar schaurig und widerwärtig. Die Germanen selbst jedoch seien abgehärtet, einfach in ihren Sitten, tapfer, treu und keusch, wenn auch mit Hang zu übermäßigem Bierkonsum und Würfelspiel. Prodekan Prof. Dr. Bleckmann hat ganz nüchtern kürzlich die Germanen porträtiert.

Das Ideal vom unverdorbenen und freiheitsliebenden Barbaren blieb haften. Genauso wie die antiimperiale Stoßrichtung gegen Rom, in deren zeitweilig wiederkehrender Betonung Herfried Münkler geradezu ein Motiv deutscher Identitätsstiftung erblickt. Luther kämpfte gegen Rom. In den Freiheitskriegen bäumte man sich gegen Napoleon und das Romanische auf. Und nicht zuletzt Bismarcks Politik war gegen den Einfluss der Römischen Kirche gerichtet. Immer wieder wurde Arminius dabei als Vorbild herangezogen. Nur die Nazis, die ja selbst ein Imperium errichten wollten, wussten mit dem altdeutschen Rebellen nicht recht etwas anzufangen. Dieses «unruhige, widerständische Element» – wie Münkler die Literaturgestalt Hermann den Cherusker an einer Stelle nennt – eignet sich eben besser zum Freiheitskampf als für eine (dritte) Reichsgründung.

Wie man ja überhaupt sagen muss, dass sich Imperien heute keiner allzu großen Beliebtheit mehr erfreuen. Eher haben wir uns daran gewöhnt, imperiale Vormacht als eine gravierende Störung der Weltordnung zu begreifen. Multilateralismus und Vereinte Nationen, so lauten die Lösungen in den internationalen Beziehungen heute. Entsprechend irritiert reagierten die Europäer, als die Amerikaner zu Beginn des neuen Jahrtausends – etwa im Irakkrieg – wieder offener ihre Vormachtstellung demonstrierten. Erlebte man hier die Rückkehr eines längst tot geglaubten Imperialismus? Wodurch zeichnen sich Imperien aus? Welche Risiken bergen sie?

IV.
In seinem aufsehenerregenden Buch «Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten» las Münkler 2005, ganz wie es seine genialische Art ist, die Logik der Weltherrschaft einmal gegen den Strich. Er ging hierbei von der Prämisse aus, wonach «imperiales Agieren nicht von vornherein als schlecht und verwerflich wahrgenommen, sondern als eine Form von Problembearbeitung neben der des Staates und anderer Organisationsformen des Politischen angesehen wird». Betrachte man die Dinge einmal aus dieser Perspektive, sei keineswegs ausgemacht, dass eine globale Ordnung gleichberechtigter Staaten ohne impe

rialen Akteur wünschens- und erstrebenswert sei.

Aber was soll denn, bitteschön, an Imperien gut und nützlich sein? Für derartige Konstruktionen sprechen aus Münklers Sicht unter anderem die Bedrohungen der westlichen Welt von den Rändern her, etwa durch den islamistischen Terrorismus oder die vielfältigen Probleme im Zusammenhang mit dem rasanten Zerfall vieler Staaten, nicht nur in Afrika. Hier sollen Imperien, die sich – anders als Staaten – durch die Durchlässigkeit ihrer Grenzen und – anders als Hegemonien – durch einen missionarischen Herrschaftsanspruch auszeichnen, als ordnungsstiftende, befriedende Mächte wirken. Dem Vorwurf, er mache sich mit solchen Thesen zum Apologeten amerikanischer Weltbeherrschungsträume, sieht Münkler gewohnt gelassen entgegen. Man müsse die Sache strategisch begreifen: «Imperien werden nicht von Imperialisten gemacht. Sie wachsen von den einstürzenden Rändern her.»

Übertragen auf die Gegenwart, gelangt er zu einer durchaus positiven Bewertung der US-amerikanischen Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges. Momentan – so das Fazit im Anschluss an den liberalen Philosophen Richard Rorty – sei die Pax Americana jedenfalls der einzig wirksame Schutzschirm, für vom Staatenzerfall bedrohte Räume gleichermaßen wie für die Lebensadern der Weltwirtschaft. Als «demokratisches Imperium» stehe das Land allerdings unter dem erheblichen Druck, seine ordnungspolitischen Maßnahmen in aller Welt gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit als humanitäre Interventionen zu rechtfertigen. Münkler räumt ein, dass wegen der Schwierigkeit, die eigene Bevölkerung für die teuren Waffengänge in Übersee zu begeistern, viele Kriege verdeckt geführt oder unter Vorspiegelung falscher Tatsachen begonnen würden. Jüngstes Beispiel ist hier die vermeintliche Bedrohung der freien Welt durch die imaginären Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins.

Die Aufdeckung solcher Lügen und Täuschungen diene der Weltöffentlichkeit dann immer wieder als Beleg für die abgründige Verlogenheit der amerikanischen Politik, der es in Wirklichkeit mehr um den Import billigen Öls als um den Export von Menschenrechten und Demokratie zu schaffen sei. Dabei wird nach Herfried Münklers Ansicht allerdings der strukturelle Zwang zur Inszenierung von Bedrohungen übersehen, der nötig sei, um eine demokratische Öffentlichkeit zur Übernahme imperialer Verpflichtungen zu motivieren. Die USA seien somit gleichermaßen von moralischer Überlastung durch ihre Mission wie von der Gefahr imperialer Überdehnung bedroht. Die Geschichte anderer untergegangener Weltreiche könnte sich wiederholen. Man denke nur an Rom.

Nicht zuletzt aus diesem Grund sollte sich aus Herfried Münklers Sicht die Europäische Union künftig stärker engagieren, etwa indem sie sich quasiimperial ihren eigenen unscharfen Grenzen und Rändern im Süden und Osten zuwendet, ohne dabei in eine Spirale der Expansion hineingezogen zu werden. In jedem Fall müssten die Europäer dafür Sorge tragen, «dass sie nicht für die Aktionen der Führungsmacht Ressourcen bereitstellen und mit der Nachsorge für deren Kriege betraut werden, aber keinen Einfluss mehr auf grundsätzliche politischmilitärische Entscheidungen haben». Was das Verhältnis der Europäer zu den USA betrifft, könne die Entwicklung der athenischen Thalassokratie als Menetekel dienen. Solange die Konfrontation mit dem persischen Großreich akut war, habe Athen seine Bündnisgenossen als zwar schwächer, aber gleichberechtigt behandelt. Nach dem Ende der Bedrohung aus dem Osten hätten sich die ehedem Verbündeten in abhängige Beherrschte verwandelt, die den Wünschen und Vorgaben der Athener zu folgen hatten. Um diesem Schicksal zu entgehen, müsse sich Europa als eine politische Einheit konstituieren, in der Außenstehende nicht mitzureden haben.

V.
Mit solchen oft ungewöhnlichen, aber stets äußerst produktiven Denkanstößen hat es Herfried Münkler, der seit 1992 Politische Theorie am Fachbereich Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt, inzwischen zu einem der gefragtesten Politikberater Deutschlands gebracht. In Anspielung auf die vor allem im angelsächsischen Raum so einflussreichen Denkfabriken und Ideenschmieden im Umfeld der großen Eliteuniversitäten nannte DIE ZEIT Münkler einmal bewundernd einen wandelnden «Ein-Mann-Think-Tank». DER SPIEGEL schrieb, er schiebe den Mächtigen hin und wieder einen Zettel unter der Tür hindurch, auf dem steht: «Schon mal so herum gedacht?». Und aus Dirk Kurbjuweits neuem Buch über die Bundeskanzlerin erfahren wir, dass selbst Angela Merkel Münkler-Fan ist. Ganz besonders gut gefalle ihr dessen Unterscheidung zwischen dem Maximum, das häufig zu Unrecht zum Maßstab moderner Politik gemacht werde, und dem Optimum, das man unter Berücksichtigung der vielen widrigen Umstände als verantwortungsbewusster Politiker anzustreben habe. Verständlich, dass der Kanzlerin, die selbst ja bekanntlich eher einen moderierenden Führungsstil pflegt, solch ein Begriff des Politischen als Kunst des Möglichen gefällt.

Neben seinen tiefgründigen ideengeschichtlichen Reflexionen und der Fähigkeit zum strategischen Querdenken, zählt die rasche Zeitdiagnose sicherlich zu den größten Stärken Münklers. Während viele Beobachter auch nach dem 11. September 2001 noch in den gedanklichen Strukturen des alten Ost-West-Konfliktes verharrten, hatte Münkler die neuen Phänomene in seinem 2002 erschienenen Buch «Die neuen Kriege» längst in griffige Formeln gefasst: «Transnationaler Terrorismus», «asymmetrische Kriegsführung». Das hatte man noch nicht gehört. Das saß. Anschließend wurde er zu Gesprächen in den Planungsstab des Außenministeriums und sogar ins Kanzleramt eingeladen. Vor hochrangigen Militärs hielt er Vorträge über die neue Lage und veranstaltete Seminare in der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Dass er den versammelten Generalen dabei nicht nur Nettigkeiten ins Stammbuch schrieb, darf als sicher gelten. Und ich hätte das auch nie erwartet, als ich den jungen linken Frankfurter Uniassistenten Münkler kennen lernte.

Münklers Meinung nach geht die Epoche der alten zwischenstaatlichen Kriege nämlich ihrem Ende entgegen. Ein Zeitalter des Friedens sei deshalb aber noch lange nicht angebrochen. Im Gegenteil gebe es in vielen Teilen der Welt geradezu eine Renaissance kleiner Kriege, in denen aber nicht mehr Staaten, sondern Warlords, Söldner und Terroristen die Hauptrollen spielten. Der Feind lebt nun im Untergrund, und er trägt keine Uniform. Die Gewalt richtet sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung. Hochhäuser werden zu tödlichen Schlachtfeldern, Fernsehbilder zu gefährlichen Waffen. Diese neuen Kriege, schreibt Münkler, «werden nicht mehr geführt, sondern sie schwelen vor sich hin». Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischen dabei zusehends, ehemals klare Fronten beginnen zu bröckeln. Kurzum: Der Krieg wird privatisiert. Um dieser neuen Konfliktstruktur wirksam begegnen zu können, müssten wir unsere Stabilität gewissermaßen exportieren oder pointiert gesagt: die Welt wieder verstaatlichen. Die Alternative dazu sei eine imperiale, geschützte Wohlstandszone mit neuen Barbarengrenzen, jenseits derer ständig Bürgerkriege stattfinden.

VI.
Mit dieser etwas düsteren Prognose möchte ich zum Abschluss noch einmal an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen anknüpfen und von der Weltbühne in unser eigenes Land zurückkehren. Wir sprachen zu Beginn bereits kurz über Herfried Münklers neuestes Buch, in dem er im Stile eines großen Erzählers von Geschichten die Geschichte der Deutschen im Spiegel ihrer Mythen vorträgt. Alte Sagen werden hier zu neuem Leben erweckt, schicksalhafte Orte besichtigt und historische Persönlichkeiten wiederbelebt. Münkler verweist auf die Macht der Mythen für die Politik – im Positiven wie im Negativen. Am Ende scheint es jedoch fast so, als würde der Autor die Armut an großen Erzählungen in unserem Gemeinwesen bedauern. Das Plädoyer für eine Wiedergeburt des politischen Mythos mag auf den ersten Blick verwundern. Es ist in der Tat ein geradezu romantisch-konservativer Gedanke.

Ist denn im Gegenteil nicht erst die erfolgreiche Entmythologisierung der Politik – ich erinnere nur an Jürgen Habermas – die Bedingung der Möglichkeit eines erfolgreich funktionierenden demokratischen Verfassungsstaates? Sollen in unserer Demokratie nicht über Mythen und Märchen aufgeklärte, mündige Staatsbürger in einen herrschaftsfreien Diskurs miteinander treten, in dem lediglich der zwanglose Zwang des besseren Arguments die politische Richtung vorgibt? Wäre eine erneute mythologische Aufladung, die quasireligiöse Imprägnierung bestimmter Sichtweisen und Standpunkte nicht eher Fluch als Segen? Nicht ohne Grund waren politische Mythen nach der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Deutschland desavouiert. Mit ihnen war buchstäblich kein Staat mehr zu machen. Wozu also gerade jetzt der Rückgriff auf Nationalmythen, in einer Zeit globaler Zusammenarbeit? Ja, würde Herfried Münkler hier wohl einräumen: Politische Mythen sind gefährlich, aber ohne die mobilisierende und motivierende Kraft großer Erzählungen geht es auch nicht. Verfassungspatriotismus allein reicht nicht aus, vor allem in Zeiten der Krise.

Passend dazu hätten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch beide deutsche Staaten um positive Bezugspunkte zur eigenen Geschichte und Identität bemüht. Dabei bezog man sich in der Bundesrepublik ganz stark auf das Wirtschaftswunder, die D-Mark und die Wiederaufbauleistung der Trümmerfrauen. In der DDR spielte dagegen der «antifaschistische Widerstand» die entscheidende Rolle für das historische Selbstverständnis des Landes. Diese säkulare Staatsreligion stützte sich auf das konstruierte Bild eines kontinuierlichen Kampfes gegen den Faschismus, in dessen Tradition die DDR sich stellte – wenngleich das Naziregime ja nicht durch einen Aufstand der deutschen Arbeiterklasse (den es nie gab) gestürzt worden war, sondern durch den Vormarsch der Alliierten.

Dass man dann in der Wendezeit versäumte, den 9. November 1989, also den Tag des Mauerfalls, trotz der mit diesem Datum verbundenen unerwünschten und gefährlichen Erinnerungen an bestimmte Ereignisse des 20. Jahrhunderts, als Anlass für eine positive, gründungsmythische Neufundierung der geeinten Republik zu nehmen, hält Herfried Münkler heute für eine verpasste Chance und ein weiteres Indiz dafür, dass Deutschland zu einer nahezu «mythenfreien Zone» geworden sei. Der Verzicht auf die symbolpolitische Aufbereitung des 9. November 1989, etwa indem man anstelle dieses denkwürdigen Tages den nüchternen 3. Oktober zum Staatsfeiertag erhob, habe es den Ostdeutschen jedenfalls nicht einfacher gemacht, in dem neuen Staat «anzukommen», dem sie beigetreten waren. Diese inhaltliche Leere lasse sich, so das vorläufige Ende der Überlegungen Münklers, auch mit patriotischen Boulevard-Schlagzeilen – «Wir sind Papst» – oder von der Politik initiierten Kampagnen – «Du bist Deutschland» – nicht kaschieren. Dass Herfried Münkler jedoch diese gesellschaftlichen Prozesse weiterhin kritisch begleiten und geistreich kommentieren wird, darauf können wir uns verlassen und freuen.

VII.
Lieber Herfried Münkler, ich freue mich, dass Sie diesen Preis der Dr. Meyer-Struckmann-Stiftung erhalten. Ich war übrigens in der entscheidenden Sitzung nicht dabei und kann Sie deshalb ganz unbelastet preisen. Die Jury hat weise und gut entschieden. Herfried Münkler ist ein homme des lettres, aber er ist auch ein Politikberater. Zuallererst ist er jedoch ein Partisan. So heißt auch ein wichtiges Buch von ihm. Er ist ein Guerillero der Wissenschaft. Was ist ein Partisan? Er liebt die Freiheit und kämpft für sie. Er erkennt keine Führung an. Er trägt keine Uniform. Er trägt seine Waffen nicht offen und hält sich an keine Truppengattungen der Wissenschaft. Ergo: Er ist gefährlich. Solche Leute braucht die Wissenschaft!

Prof. Dr. Ulrich von Alemann (geb. 1944)

Lehrt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Politikwissenschaft.

Prorektor für Lehre und Studienqualität der HHUD.
Dekan der Philosophischen Fakultät der HHUD (2006–2009).

Wichtigste Arbeitsschwerpunkte: Parteien, Verbände, Demokratietheorie, politische Korruption.

Jüngste größere Publikation: Dimensionen politischer Korruption. Wiesbaden 2005.