Laudatio
Prof. Dr. Dieter Birnbacher
Anlässlich der Verleihung des Meyer-Struckmann-Preises für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung 2007
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen ... Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«
So beantwortete Kant in seinem berühmten Aufsatz von 1784 die von dem Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner in der Berliner Monatsschrift gestellte Frage »Was ist Aufklärung?«
Wird dieser Grundtext der Aufklärung in Deutschland im akademischen oder Schulunterricht behandelt, ist zu erwarten, dass der Schwerpunkt des Interesses (und möglicherweise auch der kontroversen Diskussion) auf der von Kant gebrauchten Vokabel selbst verschuldet liegt. Denn Kant geht ja bemerkenswerterweise davon aus, dass der Einzelne, obwohl unvermögend, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, jederzeit und unter jederlei Umständen zumindest im Prinzip fähig ist, diese Unmündigkeit zu überwinden. Auch derjenige, der gegenwärtig unvermögend ist, ohne Gängelband zu gehen, soll dieses Band doch jederzeit lösen können. Andernfalls liefe der Vorwurf, der in dem Wörtchen »selbst verschuldet« liegt, leer.
Eine andere von Kant verwendete Vokabel wird darüber leicht übersehen: das Wort Mut. Auch wenn wir Kant die bei Lichte besehen erstaunliche Auffassung zuschreiben müssen, dass jeder jederzeit zur Autonomie fähig ist, gesteht Kant immerhin zu, dass dazu Mut und Charakterstärke erforderlich sind – eine Charakterstärke, von der er zweifellos – davon können wir ausgehen – annahm, dass sie ebenfalls zumindest im Prinzip von jedermann jederzeit aufgebracht werden kann.
Wir wissen nicht, wen genau Kant vor Augen hatte, als er sein klassisch gewordenes Bild der Aufklärung und ihren Hauptakteuren, die im Französischen bezeichnenderweise Lumières genannt werden, entwarf. Aber viele werden bei Kants Beschreibung an einen großen jüdischen Philosophen denken, der rund 100 Jahre vor der Periode der europäischen Aufklärung lebte und dachte, Spinoza. Spinoza hatte nicht nur den später von Kant geforderten Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er wurde für spätere Generationen von Philosophen auch zum schlechthinnigen Vorbild eines eigensinnigen, konsequent seiner Vernunft und Einsicht vertrauenden Denkers. Spinozas Denken war nicht nur unabhängig, Unabhängigkeit von Autorität und Glaubensüberzeugungen waren auch wesentlicher Gegenstand seines Denkens. Mit diesem Denken geriet er in seiner Zeit zwischen alle Fronten und wäre, wäre er weniger umsichtig gewesen, zwischen ihnen zerrieben worden.
Die eine Front war das calvinistische Holland, ironischerweise das zu seiner Zeit toleranteste Gemeinwesen der Welt. Die andere war die Amsterdamer sefardisch-jüdische Gemeinde, der Spinozas Familie angehörte und die – vollzählig versammelt – am 27. Juli 1656 den Bannfluch über den 24-Jährigen verhängte. Die Worte, mit denen dies geschah, lassen auch heute noch das Schrecklich-Feierliche des Vorgangs erahnen:
» (...) Er sei verflucht bei Tag und verflucht bei Nacht, verflucht sein Hinlegen und verflucht sein Aufstehen, verflucht sein Gehen und verflucht sein Kommen ... Hütet euch: dass niemand mündlich noch schriftlich mit ihm verkehre, niemand ihm die geringste Gunst erweise, niemand unter einem Dach mit ihm wohnt, niemand sich ihm auf vier Ellen nähere, niemand eine von ihm gemachte oder geschriebene Schrift liest.«
Auf diesen sogenannten »ersten« folge der »zweite Bann«. Vier Jahre nach dem ersten verbannte die weltliche Amsterdamer Stadtverwaltung den ungeliebten Denker aus der Stadt. Spinoza lebte von da an auf dem Lande und verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Schleifen optischer Gläser. Als Spinoza im Alter von 45 Jahren starb, waren die meisten seiner Schriften verboten, die wichtigsten, die er mit Absicht zurückgehalten hatte, unveröffentlicht. Was von ihm nachwirkte, begegnete einem generationenlangen Hass. In der sefardisch-jüdischen Gemeinschaft wie im calvinistischen Christentum wurde er wortwörtlich verteufelt, dämonisiert zu einer Verkörperung des Leibhaftigen.
Zu untragbar war für die Rabbiner Spinozas offene Leugnung des Offenbarungscharakters und damit der Autorität der heiligen Schriften. Die einzige Autorität, die Spinoza gelten ließ, war die Vernunft. Untragbar war für die niederländische Staatskirche Spinozas Ineinssetzung von Gott und Natur, sein Pantheismus: Wenn Gott und Natur identisch und alles Natürliche gleichermaßen göttlich war – wo war dann noch Raum für Sünde und Schuld? Welche Rolle konnten dann noch Buße und Gnade spielen?
Intoleranz war die bestimmende Erfahrung in Spinozas Leben. Ihr setzte er in seinem »Theologisch-politischen Traktat« die Utopie universaler religiöser Toleranz und die Idee der Religionsfreiheit entgegen: Der Staat habe zwar das Recht, von seinem Bürgern ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen, »weil«, wie Spinoza sagt, »ansonsten kein Staat bestehen könnte und die öffentliche Ordnung gefährdet würde«. Der Staat habe aber kein Recht, eine bestimmte Religion zu erzwingen oder zu verbieten. Religion – so Spinoza mit der für ihn charakteristischen Zuspitzung – erfordere gerade im Gegenteil neben »frommer und brüderlicher Ermahnung« und »guter Erziehung« vor allem »ein eigenes freies Urteil«. Religion und Aufklärung, Frömmigkeit und Autonomie, Gefühl und Vernunft sind – so können wir Spinoza paraphrasieren – keine Gegensätze, sondern bedingen sich wechselseitig.
Die Bilder ähneln sich: In Shmuel Feiners Studie zur Haskala, der jüdischen Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts, lesen wir, wie nur wenig mehr als 100 Jahre später, im Jahre 1782, Herz Wessely, Autor des im selben Jahr in Berlin veröffentlichten Pamphlets »Worte des Friedens und der Wahrheit« von einem ganz ähnlichen Fluch ereilt wurde. Der Rabbiner von Lissa in Westpolen nannte Wessely »einen hochmütigen Mann, einen Feind der Juden, der unser Leben bedroht«. Und der Bannfluch hörte sich nicht weniger schrecklich an als der Spinozas:
»Er sei exkommuniziert, gebannt und verflucht, mit Schofastoß und Löschen der Kerzen; verflucht sei er und verdammt, ausgestoßen aus der Gemeinde Israels.«
Was hatte sich Wessely zuschulden kommen lassen? In den Augen des Rabbiners war Wesselys Pamphlet eine unverhohlene Absage an das traditionelle Erziehungsideal des Judentums und eine eindeutige Parteinahme für ein in einem zweifachen Sinne aufklärerisches Bildungsideal:
Erstens sollten die Kinder und Jugendlichen nicht mehr auf das Ideal des Talmudgelehrten verpflichtet werden. Sie sollten ihre intellektuellen Kräfte nicht mehr vorwiegend auf das Studium rabbinischer Texte verwenden. Vielmehr sollte ihnen durch eine vorwiegend säkulare Bildung in Geistes- und Naturwissenschaften und durch das Erlernen einer oder mehrerer europäischer Sprachen die Chance gegeben werden, sich aus ihrer in der Regel beklagenswert schwachen sozialen, ökonomischen und politischen Lage zu befreien und Anschluss an die fortschrittlichen Kräfte der Zeit zu finden.
Zweitens sollten die Kinder und Jugendlichen autonom über ihren Bildungsgang entscheiden können. Sie sollten nicht nur die Chance erhalten, ihr geistiges Potenzial zu entfalten, sie sollten dies auch in einer selbstbestimmten Weise tun. Es ging nicht nur um Bildung zur Freiheit – zur Selbstbefreiung aus den tradierten religiösen und kulturellen Bindungen –, sondern auch um Freiheit zur Bildung, die Emanzipation des Individuums zu einer freien und selbstverantwortlichen Wahl – innerhalb der gegebenen Beschränkungen – der je eigenen Lebensform.
Aus heutiger Sicht mag die Reaktion der religiösen Orthodoxie in beiden Fällen – in der Mitte des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden und gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Polen – exzessiv und unangemessen hart erscheinen. Aber ihnen lag jeweils eine treffsichere Diagnose zugrunde. Beide Male lag in dem exkommunizierten jüdischen Freidenkertum in der Tat eine echte Bedrohung. Wesselys Pamphlet war eine ebenso reale Bedrohung für die Einheit des aschkenasischen Judentums wie Spinozas »Theologisch-politischer Traktat« für die Einheit des sefardischen Judentums und darüber hinaus für den Theismus und die religiös begründete Moral insgesamt.
Soweit die Parallelen. Darüber ist freilich der entscheidende Unterschied zwischen den von Spinoza und Wessely angezettelten intellektuellen und kulturellen Rebellionen nicht zu übersehen: Spinozas Subversion war weitgehend folgenlos. Unter anderem infolge der konsequenten Verteufelung Spinozas seitens der jüdischen und christlichen Orthodoxie blieb seiner radikalen Philosophie jede Resonanz versagt. Sie erreichte im Wesentlichen kaum mehr als einige wenige freisinnige Dichter und Denker, und das mit einer Verspätung von mehr als 100 Jahren. Für die wenigen Anhänger, die sich nach Spinozas frühem Tod zu seiner Philosophie bekannten, waren die Folgen allerdings schlimm. Sie wurden – durch Zwangsarbeit im Arbeitshaus – in einen frühen Tod getrieben.
Anders im Fall von Wesselys Pamphlet. In der Verurteilung Wesselys sieht Shmuel Feiner das Ereignis, das die Haskala zu einer in der jüdischen Welt ganz Mitteleuropas bekannten Bewegung machte. Das Pamphlet wurde zum Eröffnungszug in dem, was Feiner den »jüdischen Kulturkampf« jener Jahre nennt – und diese Bezeichnung scheint kaum übertrieben angesichts der Drastik, mit der Wessely – ähnlich wie Spinoza ein Jahrhundert zuvor – wortwörtlich verteufelt wurde. Das ging so weit, dass auf dem Höhepunkt der Haskala, in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts, Eltern, die ihre Kinder auf eine säkulare Schule schickten, als »Schlächter« beschimpft wurden, die ihre Kinder dem »Moloch der aufgeklärten Erziehung zum Fraß vorwarfen«.
Wie der europäischen Aufklärung insgesamt ging es auch der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, um Freiheit, und zwar primär um eine kulturell definierte Freiheit, eine Freiheit, die primär durch Bildung errungen wird. Auch die Haskala zielte primär auf die Köpfe und erst sekundär auf die sozialen und politischen Bedingungen, an denen sie sich stießen. Bildung bedeutete dabei dreierlei: erstens Wissenserwerb, zweitens Vernunft und drittens die Fähigkeit, nach dem, was man weiß und einsieht, zu handeln. Das gemeinsame Modell einer solchen Selbstbefreiung durch Bildung war für die Protagonisten der Haskala die Figur Moses Mendelssohn.
Aus heutiger Sicht fallen auch bei diesem jüdischen Denker, dem Vorbild von Lessings »Nathan dem Weisen«, die Parallelen zu Spinoza ins Auge: Toleranz und Gedankenfreiheit waren die Lebensthemen Moses Mendelssohns, wie es die Spinozas gewesen waren. Anders als Spinoza ging Mendelssohn allerdings mit dem Judentum sehr viel weniger hart ins Gericht. Während Spinoza die jüdische Orthodoxie der Engherzigkeit bezichtigte, betonte Mendelssohn, dass das Judentum den Toleranzgedanken bereits von sich aus enthalte, da es anders als das Christentum niemals auf Missionierung aus gewesen sei. In einem Brief Mendelssohns an Lavater, den der genannte Herz Wessely ins Hebräische übersetzte, schrieb er Sätze, die bereits deutlich Lessings »Nathan der Weise« vorausahnen lassen:
»Alle übrigen Völker der Erde, glauben wir, seyen (sind) von Gott angewiesen worden, sich an das Gesetz der Natur und an die Religion der Patriarchen zu halten. Die ihren Lebenswandel nach dem Gesetze dieser Religion der Natur und der Vernunft einrichten, werden tugendhafte Männer von andern Nationen genennet, und diese sind Kinder der ewigen Seeligkeit.«
Die mangelnde Toleranz des Christentums, nicht die mangelnde Toleranz der Juden sei die Quelle des materiellen und politischen Elends der Juden. Auf der anderen Seite vertrat Mendelssohn die Freiheit des Einzelnen aber auch gegen die innerjüdischen religiösen Autoritäten:
»Die wahre, göttliche Religion maßt sich keine Gewalt über Meinungen und Urtheile an; (...) kennet keine andere Macht, als die Macht, durch Gründe zu gewinnen, zu überzeugen, und durch Überzeugung glückselig zu machen.«
Religiöse Toleranz sollte nicht nur in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft gelten. Die Toleranz nach innen sollte der Toleranz nach außen entsprechen.
Eine bemerkenswerte Parallele zwischen Mendelssohn und Spinoza zeigt sich auch in ihren Lebenswegen. Beide waren intellektuelle Selfmademen. Spinoza hat sich als junger Mann Naturphilosophie, Mathematik und Medizin im Selbststudium beigebracht und sich mehrere Sprachen neben dem in seiner Familie gesprochenen Portugiesisch angeeignet. Fast genau 100 Jahre später tat Moses etwas, was für den Sohn eines armen Angestellten der jüdischen Gemeinde in Dessau ganz und gar ungewöhnlich war, nämlich Deutsch zu lernen. Von Bildungshunger getrieben, wanderte er im Alter von ganzen 14 Jahren allein und ohne Mittel von Dessau nach Berlin, um den Unterricht bei seinem Lehrer Rabbi Fränkel, der Oberrabbiner in Berlin geworden war, fortzusetzen. Moses Mendelssohn war wortwörtlich ein Wanderer zwischen zwei Welten – aber vor allem im übertragenen Sinn ein Gratwanderer zwischen der jüdischen und der christlichen Welt. Die Türen des christlichen Establishments waren ihm ebenso verschlossen wie die des jüdischen.
In seiner bekannten Familiengeschichte der Mendelssohns schreibt Moses Mendelssohns Urgroßneffe Sebastian Hensel:
»Er hatte alles, was in der ganzen Welt an Borniertheit, Sektiererei und Glaubenshass sowohl bei Christen als bei Juden lebte, gegen sich.«
Aber unbeirrbar ging er seinen Weg, getrieben von dem, was Shmuel Feiner die »erotischen Verlockungen des Wissens« nennt. Später hat Mendelssohn, der niemals auf einer Universität gewesen war, erklärt, dass er seine geistige Bedeutung allein seinem eigenen eisernen Willen verdanke, dass er »alles durch Anstrengung und eigenen Fleiß erzwingen musste«.
Die Bedeutung Moses Mendelssohns für die Haskala ist unbestritten. Der erwähnte Sebastian Hensel ging in der Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner Familiengeschichte sogar so weit zu behaupten:
»Immer mehr erringen sich die Juden eine geachtete
Stelle in der Gesellschaft, den Künsten und Wissenschaften, und es nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass jeder deutsche Jude, der sich irgendwo jetzt auszeichnet, dies mittelbar und oft unmittelbar Moses Mendelssohn verdankt.«
Hensel geht noch weiter. Er vergleicht die Bedeutung Moses Mendelssohns für das säkularisierte Judentum mit der Bedeutung Moses:
»Sein Palästina war die gebildete Gesellschaft. Sein Weg, die Juden in die gebildete Gesellschaft einzuführen, war, ihnen voranzugehen: Er stellte zuerst in sich das Musterbild eines gebildeten Juden auf; er machte dies den Christen anziehend genug, um ihm alle Kreise zu eröffnen; er befähigte dann die Juden zur Nachfolge, zum Eindringen in die gemachte Bresche; und wie Moses ging es auch diesem Reformator: er sah den Einzug seines Volkes in das Land, wohin er es führte, nicht vollendet.«
Haben wir hier diejenige Mythisierung Moses Mendelssohns vor uns, die Shmuel Feiner in seinem Buch kritisch zurechtrücken möchte? Zu einer Mythisierung lädt die eindrucksvolle Figur Mendelssohn ganz zweifellos ein. Wie Shmuel Feiner allerdings im Einzelnen nachweist, handelt es sich beim »Mendelssohn-Mythos« um ein Missverständnis – ein Missverständnis, dem sowohl viele emanzipierte Juden in Europa als auch viele Geschichtsschreiber der Orthodoxie und des Zionismus erlegen sind, die ihn zum Symbol der beginnenden Assimilation gemacht haben. Mendelssohn war nicht der »Vater der Haskala«, allenfalls ihr Großvater. Aber auch wenn die Ehre, als die eigentliche Hauptfigur der Haskala gelten zu können, Feiner zufolge nicht Mendelssohn, sondern Isaac Euchel – der eine ganze Generation nach Mendelssohn lebte und wirkte – zusteht, so gesteht doch auch Feiner Mendelssohn die »Schlüsselrolle« ihres hauptsächlichen Inspirators zu. Mendelssohns Salon in Berlin war gewissermaßen die »Brutstätte« der Haskala, von wo aus sie sich nach Königsberg und Breslau und weiter in ganz West-, Ostund Nordeuropa verbreitete, bis sie sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auflöste – teils wegen interner Flügelkämpfe, nicht zuletzt aber auch deshalb, weil die von ihr ausgehende Spaltung des Judentums und die Assimilation der gebildeten Juden zur Normalität wurde.
Auch wenn die genaue Rolle, die Moses Mendelssohn für die Haskala spielte, umstritten bleiben mag, vertritt Feiner interessanterweise doch eine ähnlich weitreichende These, wie sie Hensel für die Person Mendelssohn vertreten hat, für die Haskala insgesamt: Die von der Haskala in Europa eingeleitete Revolution sei wenn nicht der Quellpunkt, so doch zumindest der »Ausgangspunkt« für alle Hauptströmungen der intellektuellen Geschichte der jüdischen Öffentlichkeit seit dem 18. Jahrhundert.
Darin besteht die bis in die Gegenwart reichende historische Bedeutung der Haskala. Vergessen wir nicht, dass wir in den Natur- und Geisteswissenschaften ganz wesentlich von den Pionierleistungen jüdischer Intellektueller zehren. Die analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie etwa, diejenige Disziplin, der sich heute die meisten akademischen Philosophen zurechnen, ist in Deutschland nur deshalb so spät heimisch geworden, weil sie aus den USA gewissermaßen reimportiert werden musste, wohin ihre Hauptvertreter, in der Mehrheit deutsche Juden, vor dem Holocaust geflohen waren.
Die Bedeutung von Shmuel Feiners Buch ist auch der überragenden historischen Bedeutung dieser Bewegung geschuldet. Die Bedeutung des heute ausgezeichneten Werks Shmuel Feiners liegt aber vor allem in der Differenziertheit und Multiperspektivität, mit der es die Entstehungsgeschichte und die verzweigten Kommunikations- und Beinflussungsmuster der Bewegung der jüdischen Aufklärung beleuchtet. Sie zeigt, wie sich der innerhalb einer einzigen Generation ablaufende radikale kulturelle Wandel innerhalb des Judentums durch die individuellen Lern- und Umdenkungsprozesse seiner Protagonisten hindurch vollzog und welche Konfliktpotenziale er für die jüdischen Gemeinden und Familien in sich barg. Der Aufstand gegen die Tradition wird nicht nur von außen und kollektiv, sondern individuell und aus der Innenperspektive seiner Akteure lebendig gemacht.
Das gilt vor allem für die zentrale Figur der Haskala-Bewegung Isaac Euchel. Euchel war einer der ersten jüdischen Studenten an deutschen Universitäten, die nicht nur zum Medizinstudium, sondern auch zu den Geisteswissenschaften zugelassen wurden. Er studierte fünf Jahre an der Universität Königsberg und gehörte zu den 18 Studenten, die für ihren Lehrer Immanuel Kant im April 1786 ein Glückwunschgedicht anlässlich dessen Ernennung zum Rektor drucken ließen. Euchel war auch der erste Biograf Moses Mendelssohns. Was Feiner in seiner Darstellung dieser welthistorisch bedeutsamen Etappe der Geistesgeschichte vor unseren Augen erstehen lässt, ist ein bewegtes, von Schocks und Stürmen durchzogenes, durch publizistische Attacken und Repliken aufgerautes Bild. Die von den Freigeistern ausgehende Subversion ließ sich, sobald sie einmal in der Welt war, nicht bannen. Ein Gutteil der Unruhe ging dabei von jüdischen Studenten der Medizin aus, die auf der Grundlage ihrer naturwissenschaftlichen Kenntnisse die tradierten, zum Teil noch magisch-abergläubischen Praktiken der Krankheits- und Seuchenbekämpfung in ihren Heimatgemeinden ablehnten. Von der Kritik an der Antiquiertheit ihrer Medizin war es dann nur ein kleiner Schritt zur Kritik an der Antiquiertheit der gesamten überkommenen Lebensweise. Wie in der nicht jüdischen Welt, vor allem im vorrevolutionären Frankreich, ging die aufklärerische Subversion dabei auch in der jüdischen Welt zunehmend von einem neuen Typus des Intellektuellen aus. An der öffentlichen und halböffentlichen Debatte beteiligten sich nicht mehr nur Naturwissenschaftler, Ärzte und liberale Theologen, die einem »bürgerlichen« Beruf nachgingen, sondern auch »freischaffende« (wie man sie noch heute nennt) Philosophen und Autoren, die sich nicht von einem Beruf, sondern im Wesentlichen von Gleichgesinnten ernährten, die das Glück hatten, zugleich hinreichend wohlhabend und hinreichend wohlwollend zu sein.
Um in diesem Punkt aber einem möglichen Missverständnis zuvorzukommen: Wie Feiner zeigt, waren die »Maskilim«, wie die Protagonisten der Haskala genannt wurden, keine jüdischen Voltaires. Sie waren ihrer Tradition bei Weitem nicht so radikal entfremdet wie die französischen »philosophes« der christlichen. Die Maskilim fühlten sich weiterhin der jüdischen Religion verbunden. Sie rekrutierten sich sogar zu einem großen Teil aus Rabbinern. Sie verurteilten den Aberglauben, suchten aber andererseits – vor allem aus Furcht vor moralischer Anomie – einem möglichen Verlust des Glaubens und einem Autoritätsverlust der traditionellen religiösen Institutionen zuvorzukommen. Sie lehnten unter anderem auch deshalb – wie sich zeigen sollte, vergeblich – die Assimilation ab. Was sie wollten, war eine Modernisierung des Judentums ohne einen damit einhergehenden Verlust der jüdischen Identität.
Es leuchtet ein, dass diese Zwischenstellung zwischen einer radikal-egalitären, die kulturelle Differenzen einebnenden Aufklärung und einer weiter bestehenden Loyalität an partikuläre kulturelle Traditionen mit der moderaten deutschen Variante der Aufklärung sehr viel eher harmonierte als mit der radikaleren französischen. Heinrich Heine hatte zwar nicht ganz unrecht, wenn er in seinem Essay »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« den Exponenten der deutschen Aufklärung, Kant, als den »große(n) Zerstörer im Reiche der Gedanken« beschrieb, der »an Terrorismus den Maximilien de Robespierre weit übertraf«. Aber auf der anderen Seite haben wir Kants eigenes Zeugnis dafür, dass dieser »Alleszermalmer«, wie ihn Heine nannte, nicht zuletzt auch deshalb der Erkenntnis Grenzen setzen wollte, um dem religiösen Glauben Platz zu machen.
Für einen »Aufklärer« war Moses Mendelssohn in diesem Punkt sogar noch untypischer. Er hatte die Frage der Berlinischen Monatsschrift »Was ist Aufklärung?« in der September-Nummer des Jahrgangs 1784 noch sehr viel verhaltener beantwortet als der seine Antwort zwei Monate später publizierende Kant. Mendelssohns Antwort verrät etwas von der Ambivalenz gegenüber der Aufklärung, die wir heute mit der »Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno verbinden. Fünf Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution sieht Mendelssohn nicht nur die emanzipatorischen, sondern auch die Gefahrenpotenziale der Aufklärung. Angesichts des Risikos jeder Aufklärungsbewegung, Ordnungen und Orientierungen zu zerstören, die sie aus eigener Kraft nicht schaffen kann, schlägt Mendelssohns Antwort nahezu warnende Töne an:
»Der tugendliebende Aufklärer (wird) mit der Vorsicht und Behutsamkeit verfahren, und lieber das Vorurtheil dulden, als die mit ihm so fest verschlungene Wahrheit zugleich mit vertreiben. ... Freilich ist diese Maxime von jeher Schutzwehr der Heuchelei geworden, und wir haben ihr so manche Jahrhunderte von Barbarei und Aberglauben zu verdanken. Sooft man das Verbrechen greifen wollte, rettete es sich ins Heiligtum. Allein dem ungeachtet wird der Menschenfreund in den aufgeklärten Zeiten selbst noch immer auf diese Betrachtung Rücksicht nehmen müssen. Schwer, aber nicht unmöglich ist es, die Grenzlinie zu finden, die auch hier Gebrauch von Missbrauch scheidet. Missbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie.«

Univ.-Prof. Dr. Dieter Birnbacher (geb. 1946)
Lehrt Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Studiendekan der Philosophischen Fakultät von 2002 bis 2007.
Wichtigste Arbeitsschwerpunkte: Ethische und anthropologische Grundlagen- und Anwendungsprobleme der modernen Medizin, Ethische Probleme im Spannungsfeld von Transhumanismus und Biokonservativismus, Anthropologie und Neurophilosophie, Schopenhauerforschung.
Jüngste größere Publikation: Natürlichkeit. Berlin/New York 2006.