Lieber Herr Böhme,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Dr. Annette Schavan, hat für 2007 das »Jahr der Geisteswissenschaften« ausgerufen. Mit dieser Initiative verdeutlicht sie, was für die Lehrenden und Studierenden an den Philosophischen Fakultäten in Deutschland trotz aller Krisenrhetorik fester Bestandteil des universitären Alltages ist: die Arbeit an den »kulturellen Grundlagen«, am »ABC der Menschheit« als unverzichtbaren Bestandteil des Selbstverständnisses unserer Gesellschaft anzusehen. Und doch zeigt das »Jahr der Geisteswissenschaften« neben dieser Erfolgsmeldung auch, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften unter einem enormen Legitimationszwang stehen, wie sehr sie beweisen müssen, dass die Gesellschaft mit Recht in sie investiert.

Die vielfältigen Reformbemühungen der letzten Jahre, die Umstellung auf Bachelor- und Masterabschlüsse, die Modularisierung der Lehre, die verstärkte Vernetzung der Fächer durch Stiftung integrierter Studiengänge bzw. ihre Reorganisation in Strukturen, die Methoden des modernen Managements berücksichtigen, sind Ausdruck eines veränderten Bewusstseins an den Universitäten. Man ist sich darüber im Klaren, dass die Leistungen der Universitäten, und womöglich gerade der geisteswissenschaftlichen Fächer, transparenter gemacht werden müssen, sowohl gegenüber der politischen Administration als auch gegenüber der Öffentlichkeit.

Aus diesem Druck entsteht zugleich ein neues Selbstbewusstsein. Jede Evaluation und jede Reform verdeutlichen, dass einiges geändert werden muss, dass die Fächer, Fakultäten und Universitäten aber auch etwas zu verteidigen haben, ein Gut, das historisch weit zurückreicht, der modernen Massenuniversität aber erhalten geblieben ist. Dieses Gut, das wir »Bildung« nennen, garantiert so stark wie nie zuvor, dass die universitas als »Gemeinschaft der Lernenden und der Forschenden, [...] der Fakultäten und damit der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen [...] das Recht und die Pflicht« hat, »alles zu forschen, alles zu lehren, alles zu sagen, was im Interesse eines auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens immer auch zu tun ist«[1].

Dieses »Interesse auf Wahrheit« wird immer mehr nachgefragt. Jede Umfrage und jede Statistik zeigen, dass die Zahl der Studienanfänger in den geisteswissenschaftlichen Fächern kontinuierlich, zum Teil sogar sprunghaft wächst – und das bei einer gleichbleibenden Zahl von Lehrenden und sinkenden Etats. Wie passt diese Entwicklung zur apostrophierten Krise der Geisteswissenschaften, zum Abbau ihrer Fakultäten und Fächer, zur Kritik an ihren Lehrkörpern, die in den letzten Jahren nicht nur erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen mussten, sondern bei geringerem Einkommen mehr lehren und im Zuge der Reform vor allem mehr verwalten müssen? Um es deutlich zu sagen: gar nicht. Es ist offensichtlich, dass die Studierenden weiterhin die Herausforderung suchen, die ihnen die Geisteswissenschaften stellen, dass sie sich von der »Krise« nicht beeindrucken lassen und dass sie an den Universitäten Erfahrungen sammeln wollen und können, die ihre Wahl bestätigen. Es ist daher völlig unverständlich, wenn etwa, wie an der Universität Mannheim, versucht wird, die Geisteswissenschaften weitgehend aus ökonomischen Motiven aus dem Lehr- und Forschungsbetrieb zu entfernen. Richtig dagegen ist es, die Geisteswissenschaften und ihr enormes Potenzial zu fördern, um den Sprung der Universität ins 21. Jahrhundert und den sich globalisierenden Markt des Wissens zu schaffen.

Um diese Aufgabe meistern zu können, ist ein neues Selbstverständnis vonnöten, mit dem der anvisierte Spagat zwischen Alt und Neu, zwischen Humboldt’schem Geist und ökonomischen Zwängen gelingen kann. In einem Interview mit der »Zeit« kommentierte Horst Bredekamp, Mitglied der Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrates zur Zukunft der Geisteswissenschaften, die fatale Selbst- und Fremdwahrnehmung und die daraus erwachsende Notwendigkeit einer erneuten Selbstbestimmung der Geisteswissenschaften so: »Die Krise [der Geisteswissenschaften] liegt eher in der Ausschließlichkeit ihrer Wahrnehmung. [...] Die großen kulturellen Grundbewegungen sind von den Geisteswissenschaften gewittert und reflektiert worden [...]. Dass derartige Impulse trotz unvergleichlicher Lehrbelastungen und unsäglicher Bedingungen geleistet wurden, grenzt an ein Mirakel.«[2]

Wissenschaftstheoretischer und -praktischer Motor dieses »Mirakels« der Geisteswissenschaften sind seit etwa 15 Jahren die Kulturwissenschaften. Sie sind es, die neben den Sozialwissenschaften wesentlich daran mitgewirkt haben, der Reform der Philosophischen Fakultäten einen Namen zu geben. Die Verleihung des Dr. Meyer-Struckmann-Preises, der explizit für eine kulturwissenschaftliche Leistung vergeben wird, trägt dieser Entwicklung Rechnung. Umso mehr ehrt es die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und ihre Philosophische Fakultät, dass sie diesen bedeutenden Preis verleihen dürfen. Sie dürfen sich darin aber auch bestätigt fühlen, denn mit der Einrichtung des integrierten Studienganges »Medien- und Kulturwissenschaften« hat die Philosophische Fakultät als eine der Ersten in Deutschland auf die veränderten Realitäten in der Forschungslandschaft reagiert.

Die Kulturwissenschaft, so unser diesjähriger und erster Preisträger Prof. Dr. Hartmut Böhme, zeichne unter anderem aus, dass sie nicht nur eine »Einzelwissenschaft« darstellt, sondern auch »eine Metaebene der Reflexion und eine Form der beweglichen Verschaltung, vielleicht auch eine Steuerungsebene für die Modernisierung der Geisteswissenschaften«[3]. Seine Monografie Fetischismus und Kultur, für die Hartmut Böhme den Dr. Meyer-Struckmann-Preis erhält, beweist eindrücklich, wie richtig er mit seiner Beschreibung der Kulturwissenschaften liegt, denn sie löst eindrücklich das Versprechen der »beweglichen Verschaltung« des geisteswissenschaftlichen Wissens nach kulturwissenschaftlichen Maßstäben ein. Sie beweist zugleich, wie wichtig und richtig die Reform der Philosophischen Fakultät ist, damit die Funktionsweisen der akademisch institutionalisierten Wissenschaft den Herausforderungen der neuen Wissenschaftskultur angepasst werden können.

Mein Dank und der Dank der ganzen Fakultät gehen daher an den Stiftungsvorstand des Dr. Meyer-Struckmann-Preises und namentlich an seinen Vorsitzenden, Prof. Dr. Dr. h.c. Gert Kaiser, auf den der Vorschlag zurückgeht, diesen wichtigen Preis von unserer Fakultät verleihen zu lassen. Dadurch haben wir die Chance erhalten, den Leistungen und Innovationen, die auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften täglich erbracht werden, ein Glanzlicht aufzusetzen, das die derzeit dominierende »Ideologie der Nützlichkeit«[4] ad absurdum führt und in nuce verdeutlicht, wozu die Geistes- und Kulturwissenschaften in der Lage sind.

Univ.-Prof. Dr. Ulrich von Alemann (geb. 1944)

Lehrt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Politikwissenschaft. Dekan der Philosophischen Fakultät der HHUD.

Wichtigste Arbeitsschwerpunkte: Parteien, Verbände, Demokratietheorie, politische Korruption.

Jüngste größere Publikation: Dimensionen politischer Korruption. Wiesbaden 2005.

  • [1]

    Alfons Labisch: »Die ›Idee der Universität‹ in unserer Zeit. Analysen und Konsequenzen«, Antrittsvorlesung als Rektor der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf, http://www.uni-duesseldorf.de/home/Zentrale_ Einrichtungen/organe/rektor/Dokumente/Antrittsrede.pdf [22.5.2007], S. 1.

  • [2]

    »›Es gibt keine Krise‹. Wie geht es den deutschen Geisteswissenschaften? Blendend, sagen der Kunsthistoriker Horst Bredekamp und der Historiker Ulrich Herbert.« In: Die Zeit, Nr. 6, 1.2.2006.

  • [3]

    Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe: »Zur Einführung«,
    in: dies.: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 7–24, hier S. 12.

  • [4]

    Norbert Frei: »Populismus. Die Ideologie der Nützlichkeit. Warum man aufhören sollte, die Geisteswissenschaften schlechtzureden.« In: Die Zeit, Nr. 19, 29.4.2004.