Lieber Hartmut Böhme,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

Fetischismus und Kultur, der Fetischismus in der modernen Kultur: ist dies ein Sachverhalt, der einen aufgeklärten Intellektuellen 600 Seiten lang beschäftigen darf und soll, ist dies nicht vielmehr ein Problem aparter Minoritäten, abzuhandeln in delikat illustrierten coffeetable books, die man eher durchblättert als liest? Ungefähr in der Mitte von Hartmut Böhmes monumentaler Monografie Fetischismus und Kultur, die die analytische Distanz und geistige Freiheit ihres Autors gegenüber seinem Thema schon darin bezeugt, dass sie keine einzige Abbildung enthält, und die sich im Übrigen in das Weiß der absoluten Unschuld hüllt, findet sich folgender Satz: »Wir müssen bei der Analyse der Moderne viel stärker mit unreinen Mischungszuständen, widersprüchlichen Verkoppelungen, schwer durchschaubaren Synkretismen rechnen.« Wenn dies so ist, dann befinden wir uns allerdings auch jetzt in der kulturell in hohem Maße codierten, sozial extrem reglementierten

Situation einer Preisverleihung, in einem unreinen Mischungszustand, in dem wir zwar alles rational im Griff zu haben glauben und dennoch mit der Anwesenheit schwer durchschaubarer Synkretismen rechnen müssen, in denen auch der Fetischismus eine Rolle spielt, eine schwer durchschaubare freilich. Wir durchschauen sie sehr viel besser – was nichts anderes heißt, als dass wir uns sehr viel besser durchschauen –, wenn wir Hartmut Böhmes großes Buch gelesen haben.

Nehmen wir als Beispiel den Laudator. Sie werden, meine Damen und Herren, nicht im Ernst erwarten, dass ich ungeschützt vor Sie trete. Dazu ist die Situation zu herausragend, der Anlass zu feierlich, die Konstellation auch wissenschaftsstrategisch und -symbolisch zu befrachtet. Ein bedeutender Preis für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung wird erstmalig verliehen, zu meiner großen Freude überdies an einen mir freundschaftlich verbundenen Kollegen, von dem ich der Überzeugung bin, dass er für sein wissenschaftliches Werk den Preis verdient wie kein anderer. Zu diesem Anlass sind herausragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik erschienen, eine wissenschaftlich profilierte und kulturell interessierte Öffentlichkeit hat sich eingefunden, vermutlich sind auch Journalisten im Saal. Mit einem Wort: Die Situation macht mich nervös, sehr nervös. Denn die festliche Verleihung des Dr. Meyer-Struckmann-Preises 2006 an Hartmut Böhme soll, so wünschen wir uns, mit Anmut und Würde über die Bühne gehen, nichts darf sie stören, nichts sollte schiefgehen. Also bedarf derjenige, dem das Amt des Laudators zugefallen ist, des Schutzes, damit er seinem Amte gerecht werden kann. Mein primärer Schutz ist natürlich mein Manuskript, ich habe mich während der Anreise oft vergewissert, dass es auch da ist, nun liegt es vor mir und schafft eine wohltuende Distanz zwischen mir und meinen Zuhörern und gewährt mir die Sicherheit, etwas Situationsadäquates sagen zu können. Aber das Manuskript reicht als Schutz nicht hin. Denn eine Situation wie diese ist mannigfachen äußeren Kontingenzen und inneren Anfechtungen unterworfen, die sich nur schwer kontrollieren lassen. Indem ich dies sage, trete ich als Redner in die Situation der öffentlichen Selbstreflexion, wovon jedem Redner entschieden abzuraten ist, denn jede Reflexion seiner Situation vor der ihn beobachtenden festlich gestimmten Öffentlichkeit produziert das unfestlichste aller Gefühle: Panik. Was also schützt mich in der gegenwärtigen Situation vor einer Panikattacke: dem plötzlichen Schwindel im Kopf, dem Herzrasen, schließlich dem Brechen der Stimme – und damit dem Abbruch meiner Laudatio? Davor kann mich, machen wir uns nichts vor, gar nichts schützen – außer vielleicht ein übersteigertes Selbstbewusstsein, aber ein übersteigertes Selbstbewusstsein gehört nicht zum Qualifikationsprofil von Geistes- und Kulturwissenschaftlern, die ihre besten Ergebnisse noch immer mit der Fähigkeit zum Selbstzweifel und zu unablässiger Selbstreflexivität erzielen.

Also kann mich in der gegenwärtigen Situation nur eines schützen: das Wohlwollen meines Publikums. Aber das Wohlwollen des Publikums gehört zu den kontingenten Faktoren der rhetorischen Situation, und außerdem habe ich es wahrscheinlich schon durch meine bisherigen Bemerkungen verscherzt. Also muss es irgendetwas anderes geben, das mich schützen kann, etwas, das mir diesen Schutz absolut verlässlich gewährt und dies derart bedingungslos, dass es seine Wirkung entfaltet, obgleich oder gerade weil ich als aufgeklärter Mensch überhaupt nicht an die schützende Kraft dieses Etwas glaube. Denn wie sollte ich an die schützende Wirkung eines Objekts glauben können, dessen energetisches Potential, die wirkende Kraft, die es an sich trägt, aus mir selbst stammt, denn ich selbst habe sie auf das Objekt übertragen, unter dessen Schutz ich mich stelle? Das kann nicht funktionieren, unter keinen Umständen. Und dennoch funktioniert es, unter allen Umständen. Ich habe es ausprobiert und also ist jetzt die Zeit für ein Geständnis, das ich unter Erröten vortrage. Ich trage seit genau 25 Jahren immer, wenn ich das Haus verlasse, ein kleines Objekt bei mir; ob ich in die Universität gehe, durch Asien reise oder Laudationes halte, immer ist es da und es gehört zu den Ritualen des Tagesausklangs, mich davon zu überzeugen, dass dies nutzund funktionslose Ding mich nicht verlassen hat. Das habe ich jetzt so gesagt, als ob ich nicht wüsste, dass Dinge uns nicht verlassen, sondern dass wir sie nur verlieren können. Aber andererseits: Dingen, die man mit einem energetischen Potential, einer aktiven Kraft, ausstattet, billigt man damit zugleich die Fähigkeit zur Eigenaktivität zu; wenn sie weg sind, haben also sie uns verlassen. Einmal hat mich dieses Ding einen ganzen Tag lang verlassen und ich reagierte darauf auf höchst paradoxe Weise: Mein Verstand zuckte gewissermaßen mit den Schultern und sagte: Schade um das hübsche Ding, aber es gibt auch viele andere hübsche Dinge. Mein psychischer Apparat aber fiel zum großen Ärger meines Verstands in eine tiefe Depression und teilte mir finster mit, dass mein bisheriges glückliches Leben zu Ende sei, ich werde schon sehen ... Ich verstand diese Depression natürlich nicht, wollte sie auch gar nicht verstehen, denn an so etwas Albernes wie Talismane glaubte und glaube ich nicht, und deshalb ist dies Ding für mich auch nichts anderes als ein hübsches, sehr besonderes Ding, das mir die Gelegenheit gibt, mich jedesmal, wenn ich es in die Hand nehme, zu freuen. Das tue ich sehr oft am Tag, denn dieses Ding befindet sich, was nun wiederum den Preisträger freuen wird, im Münzfach meiner Geldbörse, also inmitten der Medien der ökonomischen Zirkulation, gegen die es mit seiner kompletten Nutzlosigkeit rebelliert – und dies höchst erfolgreich, weil es sämtliche Wertrelationen gerade durch seine Nutzlosigkeit aushebelt.

Denn dies Ding ist – ich kann mich über seinen Status nach der Lektüre von Hartmut Böhmes opus magnum Fetischismus und Kultur keiner Illusion mehr hingeben – dies Ding ist ein Fetisch, also ein materielles Objekt, in das etwas anderes eingekörpert ist: eine Bedeutung, eine Kraft, positive Energie. Und zwar ist dies Ding ein Fetisch erster Ordnung. »Die Fetische erster Ordnung«, so erklärt uns Böhme, »figurieren den hilfreichen Anderen. Sie sind die guten Objekte, in deren Hut wir uns stellen.« Sie können dies, weil sie unveräußerlich sind, auratische Unikate und geheiligte Objekte, die, wie Böhme mit einer wunderbaren Prägung sagt, als »stille Brüter der Bedeutsamkeit« eine erstaunliche Wirkkraft gerade deshalb entfalten, weil sie nicht in die Tauschökonomie des kapitalistischen Warenverkehrs zurückfließen: »Die stillgestellten, unveräußerlichen Dinge können nicht enttäuschen. Sie sind. Sie bleiben. Sie zeigen sich. Sie zeigen uns – die wir sie direkt (als Besitzer) oder indirekt (z. B. als Museumsoder Tempelbesucher) zu unserem ›Bestand‹ zählen – unsere Zugehörigkeit zum Sein. [...] Sie haben ein Geheimnis, das in nichts anderem besteht als der Resistenz, mit der sie sich der Zirkulation entziehen. Diese ›Kraft‹ macht sie besonders, singulär.« Mein Fetisch hat diese Kraft allein schon dadurch bewiesen, dass er sich seit 25 Jahren in meiner Geldbörse befindet, aus der sonst alles, was dort hineingelangt, oft schmerzlich rasch den Weg in die Zirkulation zurückfindet, weil ich mit meinem Geld Waren erwerben will, CDs, Bücher, Krawatten, edle Rotweine, Fetische zweiter Ordnung also, die in der Regel einem raschen Wertzerfall unterliegen und die deshalb auch rapide ihren narzisstischen Wert einbüßen und durch neue Fetische ersetzt werden müssen; ich nenne exemplarisch, um von mir abzulenken, die neue Vogue, eine Kellybag, den neuen Ferrari, den Vuittonkoffer oder einen Modewein mit seinem geschmackvollen Designeretikett. Mein Fetisch dagegen ist resistent gegen den Wertverschleiß, denn er ist einzigartig, ein, wie Böhme sagt, »Unikat in einer Welt der Serien und Kopien«, und im Übrigen kann sein Wert schon deshalb nicht verschleißen, weil ich ja der Einzige bin, der ihm einen Wert beimisst, und ihn damit zur Ausstattung meines Ichs werden lasse. Er zählt damit zu den guten Objekten, in deren Hut wir uns stellen können; er figuriert den »hilfreichen Anderen«, der mir Schutz gewährt. Bis heute habe ich ihn verborgen, weil ich nicht wusste, dass es sich um einen Fetisch handelt, und wenn ich es gewusst hätte, hätte ich ihn erst recht nicht gezeigt, weil ich mich damit einer unaufgeklärten gesellschaftlichen Minderheit zugehörig gefühlt hätte. Hartmut Böhmes wunderbar aufregende Studie hat mir nun aber nicht nur gezeigt, dass ich ein fetischistisches Verhältnis zu einem Ding aufgebaut habe, von dem ich bisher immer behauptet hätte, dass es ein Ding sei und sonst nichts, sondern sein Buch zeigt vor allem, dass der Fetischismus ein essentielles Medium der kulturellen Vergesellschaftung in der aufgeklärten Moderne bildet, ohne das moderne Gesellschaften nicht funktionieren können. Mit anderen Worten: Wir alle sind auf die eine oder andere Weise in unserem Verhältnis zu den Dingen Fetischisten, denn wir alle glauben zwar, ein durch und durch rationales Verhältnis zu den Objekten zu haben, statten sie aber dennoch auf höchst irrationale Weise mit Kräften, Energien, Macht, Symbolwert aus, die ihnen von ihrem Gebrauchsoder Tauschwert her gar nicht zukommen; wir machen sie damit zu Fetischen. Ich kann mich also jetzt als Fetischist outen, weil ich weiß, dass mir in dieser Festversammlung eine erlesene Gruppe von Fetischisten gegenübersitzt.

»A fetish is a story masquerading as an object.« So hat der Psychiater Robert J. Stoller in seinem 1985 erschienen Buch Observing the Erotic Imagination gesagt; Hartmut Böhme nennt dies »die bündigste Formel, die je über den Fetischismus geschrieben wurde«, und hat sie deshalb auch dem vierten Teil seines Buches, der den Zusammenhang von Fetischismus, Sexualität und Psychoanalyse behandelt, als Motto vorangestellt. »Ein Fetisch ist eine Geschichte, die sich als Ding ausgibt.« Das Ding, das zu meinem Fetisch wurde, weil es eine Geschichte in sich trägt, ist eine stark korrodierte antike Kupfermünze, die ich an einem Sommerabend des Jahres 1981 auf den Trümmern des Tempels D in Selinunt Bauern für ein paar Tausend Lire abkaufte. Die Münzbilder waren kaum noch zu erkennen und deshalb habe ich diese Münze aus einer rein funktionalen Überlegung, also mit aufgeklärter Rationalität, in meine Geldbörse gesteckt: um zu erreichen, dass sich die stärksten Korrosionen durch den beständigen Kontakt mit anderen Münzen nach und nach abreiben. Der Prozess dauerte rund fünf Jahre; seitdem sind der lorbeerbekränzte Poseidonkopf und Nike mit Siegeswagen auf den beiden Seiten der Münze wieder so gut zu erkennen, dass sie datiert werden kann: Syrakus, ca. 190 v. Chr. Es wäre sehr vernünftig – aufgeklärt – gewesen, sie nun endlich aus der Geldbörse zu nehmen – und doch befindet sie sich jetzt, zwanzig Jahre später, noch immer dort; aus dem funktionslosen Ding ist längst ein Fetisch geworden, ohne dass ich selbst es gemerkt hätte. Die korrodierte Münze hat eine Eigenmacht gewonnen, sie hat Bedeutungen und Kräfte inkorporiert und kann damit auch Bedeutungen und Kräfte ausstrahlen, die nicht das Geringste mit ihren primären Eigenschaften und Funktionen zu tun haben. Dies andere, diese Kräfte, diese Macht, ist mit dem Ding durch eine Geschichte verbunden: Ich kaufe in einer entscheidenden lebensgeschichtlichen Situation eine schäbige antike Münze und verbinde seitdem alles, was bis heute an Positivem aus dieser Situation geflossen ist – zum Beispiel die Tatsache, dass ich heute vor Ihnen spreche –, mit dieser Münze und lade sie damit auf als einen Speicher von Lebensenergie, von dem ich dennoch als aufgeklärter Mensch genau weiß, dass er diese Lebensenergie nicht enthält – und doch fließen Kraft und Energie von mir ab, wenn mich dieser Gegenstand verlässt. Und so kann mir denn auch ein Ding Schutz gewähren, von dem ich genau weiß, dass es mich nicht schützen kann. Das ist paradox und doch leben wir aufgeklärten Menschen mit einer Vielzahl solcher Paradoxien, denn unsere fetischistische Beziehung zu den Dingen verbirgt sich in vielerlei Gestalt.

Ich habe ungebührlich lange über mich – und dabei doch immer über Hartmut Böhmes großes Buch Fetischismus und Kultur gesprochen, für das er heute den Dr. Meyer-Struckmann-Preis 2006 für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung erhält. Denn alles, was ich über mich selbst, meine Schutzstrategien und meine eigene Inklination zur Fetischisierung von Dingen gesagt habe, habe ich erst aus Hartmut Böhmes Buch erfahren. Jeder Leser, der dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite mit Aufmerksamkeit liest, wird dabei – und das ist, wie ich denke, das höchste Lob, das einem kulturwissenschaftlichen Werk erteilt werden kann – unendlich viel über sich selbst und seine Situation in der modernen Kultur erfahren und sein Verhältnis zu den Dingen, das eigene Sozialverhalten, seine Konsumstrategien, die Art, wie Bilder und Gegenstände gesehen, besessen und mit Kräften und erotischen Energien aufgeladen werden, neu und anders zu begreifen lernen. Dieses Buch, das von den Grenzen des aufgeklärten Handelns in der Moderne handelt, ist ein in höchstem Maße aufklärerisches Buch; es klärt seine Leser über jene Regionen nicht nur des individuellen Unbewussten, sondern auch der öffentlichen Kultur auf, die Hartmut Böhme mit einem gern von ihm zitierten Wort Jean Pauls das »wahre innere Afrika« der Moderne nennt. Wir sind befremdet über uns, wenn wir dies Buch lesen, und kommen uns gerade dadurch erheblich näher.

Hartmut Böhme untersucht in diesem Buch mit panoramatischem Blick und staunenswerten Detailkenntnissen noch in den entlegensten Wissensgebieten die Beziehungen, die die Menschen in der Moderne zu den Objekten unterhalten, ihr Verhältnis zu den Dingen; deshalb entwirft er in diesem Buch auch, was vor ihm noch niemand im Ernste versucht hat, eine Theorie des Dings. In unserer Beziehung zu den Dingen scheint zunächst alles nach der Entzauberung der Welt durch die Aufklärung ganz klar zu sein: Wir benutzen die Dinge, sie sind unser Objekt, wir ihr Herr, unser Verhältnis zu ihnen ist rein funktional, wir haben Macht über sie, ja sie selbst vergrößern unablässig unsere Macht, sie aber haben keine Macht über uns. Diese Aussagen definieren gewissermaßen den Common Sense in der Einschätzung der Objektbeziehungen der modernen Menschen, die sich der Dinge nur zu bedienen und sie damit zu beherrschen glauben. Hartmut Böhme, der ein Meister der einfachen Fragen ist, mit deren Hilfe er als eine Art kulturtheoretischer Sokrates den Leser Schritt für Schritt tiefer in die komplexesten Probleme der kulturellen Verfasstheit der Moderne zu führen versteht, wirft nun die zunächst tief irritierende Frage auf, ob denn tatsächlich unser Verhältnis zu den Dingen so beschaffen sei, wie es der Common Sense für selbstverständlich hält, ja ob dies überhaupt möglich sein könne in einer Welt, die durch eine explosive Vermehrung der produzierten Güter charakterisiert wird, und ob uns nicht vielmehr jeder Blick auf die Wirklichkeit unmittelbar vor Augen führe, dass unser Verhältnis zu den Dingen durchaus nicht nur kausal und funktional sei, sondern in einem sehr konkreten Sinn vormodern: Wir reklamieren Macht über die Dinge und lassen doch unablässig zu, dass die Dinge Macht und Magie über uns ausüben. Es ist, als habe der Empirisierungsdruck der Aufklärung vor der Erforschung unseres Verhältnisses zu den Dingen halt gemacht, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte: dass der Prozess der Entzauberung der Welt, den Max Weber für abgeschlossen hielt, genau an dem seine Grenze fand, was wie nichts sonst den Sieg der Vernunft bezeichnete, nämlich an der absoluten Verfügungsgewalt des Menschen über die Dinge. In unserer Beziehung zu den Gegenständen ist also vieles unklar, widersprüchlich, paradox, und deshalb muss es Hartmut Böhmes erstes Bestreben in seinem Buch sein, »mehr Klarheit« in unser Verhältnis zu den Dingen zu bringen. Das klingt bescheidener als es ist. Denn am Ende seiner Analyse der Dingbeziehungen in der Industriekultur, die er mit durch Staunen verfremdetem Ethnologenblick durchführt, steht ja tatsächlich das, was der Untertitel des Buches verspricht: eine andere Theorie der Moderne, eine, die den Dingen den ihnen gebührenden Platz in der psychischen und kulturellen Ökonomie der Moderne einräumt und sich von der Beobachtung leiten lässt, dass zwar – außer denen, die ihn verfolgen – niemand an den Fetischismus glaubt, jeder sich aber gegenüber Dingen fetischistisch verhält, also sie mit Bedeutungen und Kräften auflädt, die in ihre Produktion nicht einkalkuliert waren. Das hört sich zunächst sehr abstrakt an, wird aber in Böhmes Buch ganz konkret vor Augen geführt, denn Hartmut Böhme ist nicht allein ein Virtuose der starken Thesen, sondern auch ein Virtuose der kulturellen Beobachtung, der der magischen Faszinationskraft der Fetische in Mode und Film, im Warenhaus und im Wissenschaftsbetrieb – was alles wäre über den Fetisch Exzellenz zu sagen, an den ja auch niemand glaubt und der dennoch die größten Wirkungen entfaltet! – wortgewaltig und lustvoll, wie es mit erotischem Appeal aufgeladenen Fetischen gebührt, zur Sprache verhilft.

Böhme geht dabei von der Beobachtung aus, dass es seit dem Beginn der industriellen Warenproduktion zu einer rasanten Wucherung der Dinge gekommen ist, die seit dem 19. Jahrhundert nicht nur die privaten, sondern mehr und mehr auch die sozialen Räume vollstellen. Diese Invasion der Gegenstände in die Räume des Menschen, von der niemand eindringlicher erzählt hat als Walter Benjamin in der Berliner Kindheit um 1900, führt im 19. Jahrhundert zu einer erstaunlichen Karriere des Fetischismus und einer Idolatrie der Dinge, die sich begreifen lässt als Reaktion darauf, dass sich die Dinge überall breitmachen, allgegenwärtig werden und damit eine Macht über die Menschen gewinnen, die zugleich heftigster Kritik verfällt. Bildete der Fetischismus im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch eine Kategorie zur Bezeichnung unverstandener religiöser Praktiken in Zentralafrika, wanderte er im 19. Jahrhundert, wie Böhme in souveräner Durchleuchtung der Theoriegeschichte des Fetischismus zeigt, ins Zentrum der europäischen Gesellschaft und stieg zum prominenten Deutungsmuster für deren ökonomische, religiöse und sexuelle Verhaltensdeterminanten auf, zu einem, wie Böhme sagt, »Phantasma, das das beängstigende Andere des Eigenen aufstöbern, erfassen, benennen, einkreisen, klassifizieren, aufklären, analysieren, bewerten und vor allem: wegschaffen soll«. (In Parenthese gesprochen: Als Literaturwissenschaftler zitiere ich diese herrlichen Begriffskadenzen mit hellem Entzücken, diese das Buch durchziehenden terminologischen Arpeggien, mit denen Hartmut Böhme wie ein Franz Liszt des Begriffs der Erkenntnisfreude an seinem lustbesetzten Thema in Form einer kunstvollen Spracherotik klangmächtigen Ausdruck verleiht.) Aber dieses Phantasma des Fetischismus lässt sich durch keine Kulturkritik, keine ökonomische Kritik, keinen psychoanalytischen Tadel mehr wegschaffen, im Gegenteil: Böhme zeigt in subtilen Durchgängen durch die ethnologische, ökonomische, religionswissenschaftliche und psychologische Theoriegeschichte des Fetischismus, wie die Kritik, die Nietzsche und Marx, Freud und Adorno und viele andere an den Idolen und Fetischen geübt haben, zur Installation neuer Fetische und Idole geführt hat.

So wuchert denn der Fetischismus gleichsam hinter dem Rücken der Moderne und bildet dort unser »wahres inneres Afrika«, in dem und mit dem sich aber – und das bezeichnet den eigentlichen Skandal für die aufgeklärte Vernunft – sehr gut leben lässt. Denn, so lautet die provokative These dieses Buches, die modernen Gesellschaften können weder theoretisch noch praktisch »auf die Bindekräfte, welche im Fetisch- und Idolenkult stecken«, verzichten; sie können es deshalb nicht, weil die von Rationalität, Funktionalität und Utilitarismus bestimmten Modernisierungsprozesse zwar »die formale Integration der Gesellschaft zu leisten vermögen«, aber keine »gehaltvollen Identifikationen« bieten, »welche die Moderne in attraktiver Evidenz erfahren lassen«. Diesen Attraktivitätsmangel der Moderne kompensieren, wie jeder Fan von Madonna, jeder Kunde von Armani, jedes Clubmitglied von Bayern München, jeder Besucher von Computermessen weiß oder auch nicht weiß, auf jeden Fall aber bezeugt, der Idolenkult und der Fetischismus; sie halten die Moderne im wahrsten Wortverstand am Leben. Und so hat der Fetischismus nicht allein eine psychologische, eine sexuelle, eine ökonomische, eine religiöse, er hat vor allem auch eine politische Bedeutung; einer der beunruhigendsten Sätze in diesem immer entspannt und unaufgeregt argumentierenden Buch lautet deshalb: »Demokratie bedarf der Kulte, diese aber bedürfen nicht der Demokratie. Diese Asymmetrie hat bisher noch keine Theorie der Aufklärung toleriert.« Keine Aufklärung, so lautet das Resümee dieses Buches, wird den Fetischismus aus der Welt bringen können und das zeigt sich schon daran, dass, wie Böhme nachweist, »diejenigen, die ihn am meisten verfolgen, am tiefsten an ihn glauben«. So bleibt nichts anderes, als Kritik und Analyse des Fetischismus zu verbinden, also ihn nicht allein, wie bisher immer, als charakteristischen Ausdruck der Unmündigkeit des Menschen gegenüber den Dingen – ihrer Knechtung unter die Gesetze der Ware, ihrer Unterwerfung unters Diktat der Mode, ihrer Hörigkeit gegenüber sexuellen Idolen, im Wissenschaftsbetrieb ihrer Abhängigkeit von Theoriefetischen – zu verwerfen, sondern ihn zugleich zu akzeptieren als besondere Möglichkeit zur produktiven Gestaltung der Verhältnisse zwischen den Menschen und den Gegenständen, den Fetischismus mithin zu erkennen und zu nutzen als einen, wie Hartmut Böhme sagt, »höchst kreativen Mechanismus der kulturellen Gestaltung von Mensch-Ding-Beziehungen«. Damit aber zielt seine Analyse der konstitutiven Bedeutung des Fetischismus in der Moderne nicht allein auf ein genaueres Verständnis des Funktionierens unserer Kultur – dies im Sinne einer »anderen Theorie der Moderne« – , sondern zugleich auf eine Fortführung des Projekts der Aufklärung: Denn mündig wird der Mensch nicht dadurch, dass er den Fetischismus, dessen er offenbar bedarf, mit dem Imperativ zur Rationalität verwirft, sondern dadurch, dass er dessen Mechanismen und dessen kulturelle Notwendigkeit begreift und ihn sich aneignet, ihn sich zu eigen macht, als ein Mittel zur aktiven, selbstbestimmten und damit immer auch lustbetonten Gestaltung seines Verhältnisses zu den Dingen, was auch heißt, den Fetischismus nicht passiv hinzunehmen, sondern ihn aktiv zu gestalten als ein soziokulturelles Bindemittel und als eine, wie Hartmut Böhme sagt, »unverzichtbare Ressource an ästhetischer Kreativität und erotischer Lust«. Dies zielt letztlich auf einen erweiterten Begriff der Mündigkeit des Menschen, in dem die unabdingbare Ausdifferenzierung der Rationalität und der Fähigkeit zur Selbstreflexion erweitert wird um die produktive Entwicklung und Entfaltung der kreativen Ressourcen, die dann aus dem Fetischismus gewonnen werden können, wenn man ihm nicht verfällt, weil man ihn verfolgt. »Modern heißt«, so sagt Hartmut Böhme, »mit sich selbst im Widerspruch zu leben, ohne ihn aufheben zu müssen.« Eine moderne Kultur, die nach dieser Maxime verfährt, in der man also rational agieren kann, gerade weil man so bewusst wie lustvoll den Dingen ihre Agency, ihre Eigenmacht, zugesteht, wäre dann eine, die sich, so Böhme, durch »eine Art Republikanismus der Widersprüche« auszeichnet; es lebt sich freier in ihr.

Eine solche Theorie der Moderne kann nur mit einem gänzlich undogmatischen, mit einem freien Blick auf die kulturelle Verfasstheit der Moderne entworfen werden. Hartmut Böhme, der zunächst als Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg gelehrt hat, bevor er 1993 eine Professur für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin übernahm, ist nicht allein einer der gelehrtesten, sondern auch einer der freiesten Köpfe, die ich kenne. Er ist, so möchte ich behaupten, das eine, weil er das andere ist. Er überblickt vor dem Hintergrund eines historischen Wissens, das bis in die Anfänge der menschlichen Vergesellschaftung zurückreicht, die gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen, philosophischen und literaturtheoretischen Diskurse mit staunenswerter Gründlichkeit; jeder Leser seines Buches wird sich davon überzeugen können. Als Theoretiker der modernen Kultur ist er zugleich ein Historiker des Wissens über die moderne Kultur; deshalb entwickelt er in seinem Buch seine andere Theorie der Moderne methodisch auch in einem dreifachen Durchgang durch Religion und Ethnologie, durch Ökonomie und Psychoanalyse aus einer Wissenschaftsgeschichte des Fetischismus. Die Breite des theoretischen und die Tiefe des historischen Wissens, die in in diesem Buch entfaltet werden, üben auf den Leser nie eine einschüchternde Wirkung aus, im Gegenteil: Während es großartige Bücher gibt, bei deren Lektüre dem Leser immer enger ums Herz wird, weil er Schritt für Schritt tiefer in ein dogmatisches Geflecht gezogen wird, atmet der Leser von Böhmes Buch, je weiter er in der Lektüre voranschreitet, umso befreiter auf, weil er Kapitel für Kapitel Dogmen – vielleicht sollten wir hier besser sagen: Theoriefetische – abzuschütteln und einen freien Blick auf unsere kulturelle Verfasstheit zu werfen lernt. Theoretische Dogmen sind Hartmut Böhme ein Greuel; deshalb ist er auch ein so hervorragender Wissenschaftsorganisator, der die unterschiedlichsten Formen akademischer Produktivität zu integrieren versteht. An einer Stelle seines Buches heißt es lapidar: »Diskurs-Hygiene bringt sich um Einsichten.« Nach dieser Maxime ist dies Buch geschrieben: mit der Bereitschaft, wo immer sich etwas über die Kultur der Moderne und die konstitutive Rolle, die der Fetischismus in ihr spielt, lernen lässt, dies zur Kenntnis zu nehmen und produktiv zu machen: bei Karl Marx und Martin Heidegger, bei Augustinus und Friedrich Nietzsche, bei Sigmund Freud und Aby Warburg, dem eines der schönsten Porträts in diesem an geistigen Porträts so reichen Buch gewidmet ist. Dass daraus dann kein theoretischer Synkretismus erwächst, dafür sorgt bereits die kulturelle Beobachtungsintensität und Sensibilität eines Autors, der die Bedeutung der Theorien immer an den Phänomenen misst, denen sie gerecht zu werden haben. Zu großer polemischer Form läuft Hartmut Böhme deshalb – selten genug – bei aller Liberalität auch nur dort auf, wo die Inkompatibilität von Theorie und Sache mit einer entsprechenden Neigung zur Diskurshygiene, also dogmatischer Verhärtung und der Etablierung akademischer Gurus, einhergeht. Man kann sich davon überzeugen anhand seines lustvollen Angriffs auf die Phallokratie Jacques Lacans und seiner Schule, an dessen Ende mit dem Phallus ein besonders aparter Theoriefetisch zu Staub zerfallen ist.

Hartmut Böhme fordert uns also in seinem Buch dazu auf, es Madonna gleichzutun und zu jener kunstvollen Form des Umgangs mit den Dingen zu finden, die zur Virtuosität eines »reflektierten Spiels mit Fetischen« führt. Ich zitiere einen Passus, den ich wie eine Quintessenz des Buches lese: »Das erfordert eine starke kulturelle Kompetenz, um mit dem Als-ob der fetischistischen Lüste in Mode, Essen und Medien umgehen zu können. Man muss Subjekt und Objekt zugleich des Fetischismus sein. Wir müssen fähig sein, Essen, Mode und Bilder zu ›Ereignissen‹ werden zu lassen, die uns widerfahren, uns mitnehmen, ja auch überwältigen: Wenn dies nicht gelingt, wickeln wir das Leben freudlos ab, getröstet allenfalls durch soziale Erfolge. Zugleich müssen wir fähig sein, all die magische Bezauberung zeiträumlich einzugrenzen, zu reflektieren und okkasionell zu handhaben; anderenfalls konfundieren das Reale, das Symbolische und das Imaginäre und wir verlieren uns im Irrgarten der Lüste und Süchte.«

Dies also ist das Ziel dieser groß entworfenen, groß ausgeführten »anderen Theorie der Moderne«: zur Ausbildung einer »starken kulturellen Kompetenz« im Umgang mit den Fetischen beizutragen, nicht um sie abzuschaffen oder um uns ihrer zu entledigen, sondern um im reflektierten Spiel mit ihnen so viel Lebensfreude aus ihnen abzuzweigen wie nur möglich: aufgeklärt durchaus, aber unbeschwert aufgeklärt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine sizilianische Münze hat mich bis an das Ende meiner Laudatio auf Hartmut Böhme gelangen lassen und damit die ihr von mir in einem reflektierten Spiel mit dem Fetisch beigelegte Wirkkraft unter Beweis gestellt. Zugleich hat sie damit vor Ihrer aller Augen, auf freilich bescheidene Weise, Hartmut Böhmes andere Theorie der Moderne empirisch bestätigt.

Lieber Hartmut Böhme, ich gratuliere Dir, ich gratuliere uns allen zu Deinem großen Buch Fetischismus und Kultur. Und ich gratuliere Dir von Herzen zur Verleihung des Dr. Meyer-Struckmann-Preises 2006.

Univ.-Prof. Dr. Ernst Osterkamp (geb. 1950)

Lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin Neuere Deutsche Literatur. Alt-Dekan der Philosophischen Fakultät II der HU.

Wichtigste Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Literatur der Frühaufklärung, der Klassik und der Moderne. Die Wechselbeziehungen zwischen den Künsten.

Jüngste größere Publikation: Wilhelm Hauff oder Die Virtuosität der Einbildungskraft. Göttingen 2005 (Hg. zus. mit Andrea Polaschegg und Erhard Schütz).