Lieber Herr Böhme, sehr geehrter Herr Staatssekretär Grosse-Brockhoff, sehr verehrter Herr Präsident, lieber Herr Kollege Kaiser, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,

auch die Philosophische Fakultät der HHUD hat einen Exzellenzwettbewerb durchgeführt. Sie hat dazu nicht Juroren aus Stanford, Princeton oder St. Gallen eingeladen, sondern die Jury aus sachkundigen und engagierten Mitgliedern der eigenen Fakultät zusammengestellt. Und sie hat nicht wissenschaftliche Großprojekte und hochfliegende Pläne von Forschungsgruppen und Exzellenzclustern prämiert, sondern die bereits vorliegende Forschungsleistung eines Einzelnen, der in »Einsamkeit und Freiheit« ein Werk vorgelegt hat, das eines der zentralen Felder heutiger Kulturwissenschaft neu beleuchtet: das Feld der »Memoria, des kollektiven Gedächtnisses«.

Maurice Halbwachs hat als Erster dieses Forschungsparadigma eingeführt, indem er die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses für die Identitätsbildung von gesellschaftlichen Gruppen und Nationen unterstrichen hat.[1] Pierre Nora hat die »Gedächtnisorte« als defizitäre Formen des kulturellen Gedächtnisses in der Moderne identifiziert.[2] Hartmut Böhme geht einen Schritt weiter: Er sucht eine andere, eine antirationale Form des Gedächtnisses im Herzen der Moderne selbst auf.

Der Dr. Meyer-Struckmann-Preis wird an Hartmut Böhme vergeben in Anerkennung seines Gesamtwerks und unter Berücksichtigung seiner neuesten Veröffentlichung: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. In diesem Buch widmet sich Hartmut Böhme dem, was in unserer »aufgeklärten« Gegenwart verdrängt und vergessen ist. Seine These lautet, »dass in der Moderne vormoderne Formen und Institutionen der Magie, des Mythos und Kultus, der Religion und der Festlichkeit aufgelöst werden, ohne dass die darin gebundenen Energien und Bedürfnisse zugleich aufgehoben wären«.[3] So findet er im Umgang des Menschen mit den Dingen eine kulturelle Praxis aufbewahrt, die scheinbar durch den umfassenden Sieg der aufklärerischen Vernunft aus der Welt verschwunden ist. Für Böhme entspringt die Magie der Dinge, denen die Menschen eine Bedeutung beilegen, so dass sie zu Fetischen werden und eine Macht über ihr Leben ausüben, einem Urbedürfnis nach Verzauberung, das von den rationalen Strategien der Moderne nicht befriedigt werden kann. Je ferner man sich die Dinge halten möchte, je mehr man sie technisch »bewältigt« glaubt und je genauer man sie mit dem Mikroskop der Rationalität betrachtet, desto mehr gewinnen sie an Zauber und an exaltierter Exotik. Unter dem analytischen Blick Böhmes gewinnen die Dinge so eine Aura zurück, die ihnen nach Walter Benjamins vielfach gedankenlos wiederholter These in der Moderne verloren gegangen ist. Der »Entzauberung der Welt« (Max Weber) entspricht nach Böhme ihre Verzauberung im Fetischismus, der wir alle als Sammler, als Käufer von Waren, als Modekonsumenten, als ästhetische Genießer und als erotische Wesen huldigen.

Indem Böhme »das Afrika in uns«,[4] diesen dunklen, vergessenen Kontinent in der gesellschaftlichen Praxis der Moderne wieder entdeckt, lehrt er uns die Geschichte der Moderne gegen deren eigenes, falsches Selbstverständnis neu zu lesen. Neben die mündliche Tradition und die Schrift, neben Bilder und Riten, neben die »milieux de mémoire« und die »lieux de mémoire« setzt er damit eine weitere Form der memoria: die vom Menschen bewusst oder unbewusst mit Bedeutung belehnten Dinge als das andere Medium des kollektiven Gedächtnisses.

Die heutige Preisverleihung ist möglich geworden dank der mutigen Initiative der Dr. Meyer-Struckmann-Stiftung, die in einer Zeit, in der die Geistes- und Kulturwissenschaften in sogenannten Eliteuniversitäten und Exzellenzclustern keine Beachtung mehr finden, ein Zeichen gesetzt hat. Sie möchte mit ihrem hoch dotierten Preis die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit jeweils auf ein Forschungsgebiet und einen Forscher aus dem Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften richten. In diesem Jahr wurde eine Arbeit zum Thema »Memoria: Formen des kollektiven Gedächtnisses« prämiert. Im nächsten Jahr soll der Preis für Arbeiten zum »Fortleben jüdischer Traditionen in Kultur und Gesellschaft« ausgeschrieben werden.

Und noch eine Besonderheit dieses Preises möchte ich zum Schluss hervorheben. Er wird nicht von einer Akademie oder einer Stiftung vergeben, sondern von der Philosophischen Fakultät einer Universität und damit von einer Institution, deren genuine, im Grundgesetz garantierte Aufgaben Forschung und Lehre sind. Dass dies heute möglich geworden ist, in einer Zeit, in der die kulturwissenschaftliche Forschung unter den Zwängen der Bachelor- und Masterausbildung zu verkümmern droht, dafür möchte ich dem Vorsitzenden der Dr. MeyerStruckmann-Stiftung persönlich danken. Ihnen, lieber Herr Professor Kaiser, kommt das Verdienst zu, die Philosophische Fakultät wieder als den Ort sichtbar gemacht zu haben, an dem die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft in Muße möglich ist und an dem sich so das kulturelle Gedächtnis konstituieren kann.

Univ.-Prof. Dr. Bernd Witte (geb. 1942)

Lehrt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Alt-Dekan der Philosophischen Fakultät der HHUD.

Wichtige Arbeitsschwerpunkte: Autoren des 18. und 20. Jahrhunderts.

Jüngste größere Publikation: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München 2007.

  • [1]

    Maurice Halbwachs: »Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen« (1925), Frankfurt/M. 1985.

  • [2]

    Pierre Nora: »Zwischen Geschichte und Gedächtnis«, Berlin 1990.

  • [3]

    Hartmut Böhme: »Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne«, Reinbek 2006, S. 22.

  • [4]

    A.a.O. S. 172.