Prof. Dr. Hartmut Böhme
Eine andere Memoria. Das Eingedenken der Natur im Medium der Kunst
Schriftliche Fassung des 2006 anlässlich der Verleihung des Meyer-Struckmann-Preises für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung gehaltenen Vortrages
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Grosse-Brockhoff, sehr geehrte Frau Vizepräsidentin,
sehr geehrter Herr Präsident Kaiser,
sehr geehrter Herr Dekan,
lieber Ernst Osterkamp, meine Damen und Herren,
es ist ein bewegender Moment für mich, den dieses Jahr erstmalig vergebenen Preis der Dr. Meyer-Struckmann-Stiftung entgegennehmen zu dürfen, der im Zusammenwirken mit der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität und dem Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen verliehen wird. Dass ich hier stehen darf, erfüllt mich mit Dankbarkeit, aber auch mit Bescheidenheit. Bescheidenheit deswegen, weil man nach fast dreißigjähriger Tätigkeit als Professor genauer versteht, dass im unerschöpflichen Universum des menschlichen Geistes ein Einzelner, zumal ein Wissenschaftler, wenig mehr als ein Nichts ist. Was in den Künsten, den Literaturen und den Wissenschaften historisch geleistet und zu Signaturen des menschlichen Geistes gebildet wurde, erfüllt jeden, der von Amts wegen mit der Pflege, Auslegung und Weitergabe von kulturellen Leistungen betraut ist, mit Demut. Da ist es nicht einfach, einen Preis verliehen zu bekommen. Dies gilt umso mehr, – und dies möchte ich in den Zeiten des Exzellenzwettbewerbs betonen –, als Qualität und Leistung der Fächer der Philosophischen Fakultäten auch im internationalen Maßstab noch niemals ein so herausragendes Niveau aufgewiesen haben wie heute. Viele Kolleginnen und Kollegen könnten hier heute an meiner Stelle stehen. Dies trifft besonders auf den wissenschaftlichen Nachwuchs zu, für den die Zukunftsaussichten an deutschen Universitäten beschämend schlecht stehen und der zunehmend ins Ausland abzuwandern gezwungen ist.
Doch will ich nicht ins rituelle Lamento der Universitäten fallen; vielmehr möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren, nahebringen, was geisteswissenschaftliches Arbeiten für mich bedeutet. Dies verbinde ich, auf eine vielleicht überraschende Weise, mit dem Thema, das für den diesjährigen Dr. Meyer-Struckmann-Preis ausgeschrieben war, nämlich der Memoria. Wir begegnen dabei zwei Phänomenen, die gewöhnlich nicht mit wissenschaftlicher Arbeit verbunden werden, ihr aber wesentlich zugrunde liegen. Das eine ist: im Schatzhaus der Geschichte zu arbeiten, heißt, ein assoziatives und intuitives Gewebe zu entwickeln, aus dem spezifizierte Fragestellungen und methodisch strenge Analysen allererst hervorgehen. Der zweite Punkt ist: historische Forschung, die stets Erinnerungsarbeit ist, verbindet sich unausweichlich mit der Person des Wissenschaftlers selbst. Zwar wissen wir seit Ludwik Fleck, dass auch naturwissenschaftliche Verfahren einen Stil aufweisen, der mitkonstituiert, was als wissenschaftliche Tatsache gilt; doch scheint mir, dass die Involvierung der Person in den historischen Geisteswissenschaften ungleich intensiver ist. Intuition, Assoziationsreichtum und Einbindung der Person sind nicht etwa Störfeuer in methodisch abgeklärten Verfahren, sondern notwendige Bedingungen der geisteswissenschaftlichen Arbeit, gerade weil es sich bei dieser nicht um Datenerhebung und information processing, sondern um Erinnerungsarbeit handelt. Für die kulturelle Reproduktion von Gesellschaften ist dies fundamental. Denn hier gilt der Satz, dass eine Gesellschaft nur so viel Zukunft hat, wie sie an Erinnerung aufzubringen die Kraft findet. Die Geschichte von Kulturen ist, nach einem Diktum Hegels, nicht als knöchernes »Beinhaus« und totes Archiv, sondern als ein Medium zu behandeln, in dem sich die lebendige Gegenwart und das Temperament der Forscher mit dem ebenso Unwiederbringlichen wie Unvergänglichen der abgelebten Geschichten zu einer Assoziation formieren. Geschichte wird nur erkannt in dem Maß, wie sie in transformierter Gestalt zur Ressource der Zukunft wird; umgekehrt droht die Zukunft zu einer schlechten Wiederholung des Vergangenen gerade dann zu werden, wenn sie der Nötigung zu geschichtlichem Eingedenken sich ledig wähnt. Geschichte also ist, nach dem schönen Wort Reinhard Koselleks, stets erinnerte Zukunft, will sagen: Das Kreative und Neue, auf das wir als exzentrische Lebewesen, die sich im Horizont einer unbekannten Zukunft zu orientieren haben, angewiesen sind, wird gerade im Medium der Erinnerung eröffnet.
Mehr als jemals zuvor gilt dies auch für die gegenwärtige Epoche der Globalisierung, die vor uns liegt als Aufgabe einer friedlichen und menschendienlichen Verflechtung der Weltkulturen. Aus der Geschichte der großen Imperien wissen wir, dass Globalisierung sich als polemogener und dissoziativer Prozess mit unabsehbaren Sicherheits- und Konfliktrisiken erweisen wird, wenn wir nicht in der Lage sind, über die technisch-wissenschaftliche und ökonomische Dimension hinaus die Globalisierung als eine Form praktischer Kultur zu entwickeln. Globalisierung kann nur gelingen, wenn sie die Heterogenität der historisch gewachsenen Kulturen und Sprachen als unhintergehbare Bedingung und zugleich als produktive Ressource der Zukunftsgestaltung zu integrieren vermag. Dazu bedarf es des memorativen und assoziierenden Vermögens, für das die Geistes- und Sozialwissenschaften, aber natürlich auch die Künste und Literaturen, die nötigen, wenn auch nicht die hinreichenden Instrumente entwickelt haben.
Diese Überlegungen klingen abstrakt genug und scheinen weit entfernt von dem, was ich Ihnen ankündigte: nämlich die Rolle von Assoziation und Stil geisteswissenschaftlicher Erinnerung zu erläutern. Ich wechsele darum zu einem Beispiel aus meiner jüngsten Beschäftigung mit der bildenden Kunst. Ich will Ihnen daran vorstellen, dass die Kunst eine wundersame Form der Memoria dar-stellt, auf die wir nicht verzichten können. Die exemplarische Hommage an eine Künstlerin, Angela Clement, die heute unter uns weilt, stellt zugleich einen Dank dar, den ich in meiner Arbeit den Künsten schulde. Einen Preis verliehen zu bekommen, weckt ja nicht nur die Dankbarkeit Ihnen, den Mitgliedern der Jury und der Stiftung, gegenüber; er erinnert auch an die unabsehbare Kette von Personen und Erfahrungen, ohne die ich hier nicht stünde. Indem ich einer Künstlerin etwas von dem zurückzugeben suche, was ich an ihrem Werk lernen konnte, so ist dies zugleich eine Geste und stille Adresse an all diejenigen, deren Werk und Denken mich inspiriert und gefördert haben. Wenn Ihnen dabei eine befremdliche Form der Erinnerung begegnet, die ich das Gedächtnis der Natur nennen möchte, so verbindet sich dieses Erinnern mit dem Dank an die schweigenden Dinge und Stoffe, die, auf indirekte Weise, unsere Kultur tragen. Sie mögen dies als eine Erweiterung der Memoria ansehen, für die der Dr. Meyer-Struckmann-Preis ausgeschrieben war, eine Erweiterung, die in den akademischen Diskursen zum kulturellen Gedächtnis noch kaum ansichtig geworden ist.
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Angela Clement, im nahen Remscheid lebend, stammt aus Goslar am Harz; sie ist die Tochter des letzten Direktors des Bergwerkes am Rammelsberg, das heute zum Weltkulturerbe gehört. In den Räumen dieses Bergwerks hat Angela Clement ihre letzte Ausstellung installiert. Es kann keinen besseren Ort für ihre Kunst geben als die alten Hallen des Rammelsberger Bergwerks, in dessen Schatten sie aufwuchs. Nicht mehr das Kind, doch die Künstlerin, und das Kind in ihr, umkreist seit über dreißig Jahren diesen legendären Berg. Und dieses Kreisen wurde zu einer Erinnerungsarbeit nicht nur an ihrer Kindheit, sondern an der geognostischen Geschichte unseres Erdkörpers, der – alten Überlieferungen gemäß – in seinen Tiefen, geschützt vor den Blicken der Menschen, die edlen Metalle heranreifen lässt. Darum war es seit alters ein ebenso begehrliches wie waghalsiges Unternehmen, die metallenen Kinder der Erde dieser zu entreißen, um aus ihnen Schmuck, Geräte, Waffen, Kunstwerke oder Geld zu schaffen, jene schönen wie zugleich verderblichen Elemente unserer Zivilisation. In vielen Überlieferungen des Orients und des alten Europa war der erztragende Berg gynäkomorph. Und der Erzbau, so sehr er die früheste Form einer hochdifferenzierten Systemtechnologie war, die Handwerk und Mechanik, Hydraulik und Pneumatik, Metallurgie und Mineralogie, Chemie und Physik vereinigte und eine Fülle von Gewerken zusammenführte, – der Erzbau also war seit mythischer Zeit bis hin zur Epoche Leonardos eine prometheisch männliche Arbeit am Körper der Terra. Darum mussten es noch im Christentum weibliche Heilige sein, die den Montanbau patronierten, während das Bergwerk selbst für Frauen ein gesperrter Taburaum war. So nimmt es nicht wunder, dass das Rammelsberger Bergwerk nicht nur zum Imaginarium des Kindes, sondern zur Stätte wurde, aus der die Künstlerin die ihr wesentlichen Erze und Mineralien bezog, um aus ihnen die Farben und Stoffe ihrer Kunst zu gewinnen. Zu guter Letzt ist Angela Clement selbst zur Bergfrau geworden, die Erste und Letzte des nunmehr toten Werks, aus dem die Stoffe und Motive der Kunst zu gewinnen der Rammelsberg, montantechnisch erschöpft, ein gleichwohl unerschöpfliches Reservoir darstellt. Und gewiss ist es nicht zufällig eine Frau, die auf diese Weise eine ästhetische Erinnerungsarbeit an die vieltausendjährigen männlichen Montantechniken betreibt, Techniken, die gerade aus der Ausbeutung der Magna Mater ihre Triumphe bezogen.
Die Kunst, die mit den Mineralien des Berges arbeitet, ist gewiss ökologisch schonender als die Gesellschaft, die die Berge in einem Prozess zunehmender Entsakralisierung ausbeutet, aber eben damit auch die Voraussetzungen schafft dafür, dass es Kunst geben kann. Darum wäre es ideologisch blind, dem Bergbau den Sündenfall der Naturausbeutung vorzuwerfen, um der Kunst paradiesische Unschuld zu reservieren. Kunst hat an der Gewalt teil, die man der Technik vorwirft, nicht nur, weil sie selbst Technik ist, sondern weil sie ihrem Wesen nach eine schöpferische Zerstörung darstellt. Gerade darin ist sie ein Erinnerungszeichen an die unauslöschliche Ambivalenz, die dem Zivilisationsprozess eignet; und sie ist Erinnerung daran, dass in jedes Werk, sei’s ästhetischer oder technischer Art, das Artifizielle ebenso eingeht wie das Naturhafte und Stoffliche.
Zur Geschichte der Montankultur vom Altertum bis zur Frühneuzeit habe ich lange gearbeitet, ebenso wie zur Entstehung der Geowissenschaft seit dem 17. Jahrhundert, als erstmals die Erde als Archiv der Tiefenzeit entdeckt wurde; ich studierte die Kunst und Literatur der Goethezeit, für welche die Stratigrafie der Erde und die Arbeit des Geognosten geradezu zum Modell der Memoria wurden, nicht nur des in Bildund Sprachzeichen operierenden menschlichen Gedächtnisses, sondern des in materialen Signaturen verfassten Gedächtnisses der Natur (Rupert Sheldrake). So konnte der Zufall nicht ausbleiben – denn auch der Zufall ist ein ebenso treuer wie unsteter Begleiter der Wissenschaft –, dass ich auf die Kunst Angela Clements stieß, die ich als Kind niemals gesehen hatte, obwohl auch ich zu Füßen des Rammelsberger Bergwerks aufwuchs. Nicht nur erregte dieser schrundige, von unbetretbaren Stollen geheimnisvoll durchzogene Berg die Fantasie des Knaben, sondern zahllose Male wurden seine Wälder zu abenteuerlichen Zonen meiner Streifzüge.
Im Spannungsfeld des Montanen also entfaltet sich die Kunst Angela Clements. Ihre Werke werden zu Schauplätzen wundersamer Begegnungen von Stoffen, wie sie weiter nicht auseinanderliegen können, von Zeiten, wie sie ferner und älter nicht sein mögen, von Räumen, die getrennter nicht sein können. Die warmtönigen Farben der Werke entstammen den Mineralien, die auch als plastische Körper verwendet werden, oder es sind Eigenfarben der Metalle, wie etwa des Kupfers oder des Eisenmeteoritstaubs, den Angela Clement mit dem antikisierenden Namen »Himmelseisen« belegt: Denn die Alten wussten bereits von der kosmischen Herkunft der Eisenmeteoriten, die schon sehr früh zu Gerät weiterverarbeitet oder als Sakralobjekte verehrt wurden. Meteoriten sind wahre Himmelsboten, die wie ein Gedächtnisarchiv funktionieren: bewahren sie doch Spuren der Geschichte des Sonnensystems, ja, sie reichen gelegentlich noch in präsolare Epochen zurück, sind also älter als 4,5 Milliarden Jahre. Gleichermaßen wurden, spätestens im 18. Jahrhundert und dann in der Kunst der Romantik, die irdischen Berge als Archive mit einer ungeheuren Tiefenzeit entdeckt: Berge sind die stummen Zeugen der erdgeschichtlichen Dramen, die der Geognost und – bei Goethe, Novalis oder Carl Gustav Carus – der Künstler zu entziffern suchten. Wenn der Montantechniker Novalis von der Möglichkeit eines »schönen Bergbaus« spricht, so projektiert er damit die Ergänzung der technischen Montankunde um diese Dimension einer ›Memoria der Erde‹: Sie tritt der Astronomie und Astrophysik, insoweit sie die Geschichte des Weltalls erforschen, zur Seite. Darum sind die Montankundigen, die den »Denkmalen der Urwelt« nachforschen, bei Novalis auch umgekehrte Himmelsforscher: Sie erkunden in der Tiefe, was die Astronomen in der Höhe zu ermitteln suchen: das Gedächtnis der Natur in den materiellen Spuren ihrer unvordenklichen Vergangenheit.
Ein Weiteres kommt hinzu: Angela Clement hat längst realisiert, dass in der Meteoritenforschung Astrophysiker mit Paläomolekularbiologen zusammenarbeiten, auf der Spur einer wahrlich kühnen Hypothese: denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass mit den Meteoriten organische Verbindungen aus dem Weltall zur Erde gelangten und hier den Initialpunkt setzten für die präbiotische Bildung jener chemischen Strukturen, aus denen sich später die ersten Formen des Lebens ausdifferenzierten. Vielleicht, so suggeriert die Kunst Angela Clements, ging irgendwann aus der überaus zufälligen Begegnung von Meteoriten und Erde das Leben hervor, dessen Teil wir sind: Denn im Letzten sind auch wir aus nichts anderem als aus molekularen Kristallgittern generiert. Auf dieser Ebene löst sich der Gegensatz von Organischem und Anorganischem auf. Und darum sind die Steine, Mineralien, Erze, Meteoriten, mit denen Angela Clement arbeitet, nicht das uns Fremde, sondern die entferntesten Verwandten unserer selbst. Auch dieser Gedanke, durch heutige Forschungen jeder bloß esoterischen Spekulation entzogen, ist von Goethe und den Romantikern vorgedacht und zieht sich als gestalterische Idee durchs Werk Angela Clements.
Die Frage, die hier ästhetisch traktiert wird, ist die nach der Einheit des Vielen. Was hat das biblische Bergwerk Timna in Israel mit den Montanwerken im griechischen Laurion, mit Lagerstätten in China und Chile zu tun, aus denen die Künstlerin ihre Materialien bezieht, ebenso wie aus dem heimatlichen Rammelsberg? Es scheint, als schlüge die Künstlerin hier vor, die Universalität und Transkulturalität des Montanen zu einem einzigen ästhetischen Archiv zu verwandeln, das die weltweit gestreuten Montankulturen reflektiert. Gleichnisweise werden alle Berge und Bergwerke aus ihrer lokalen Bindung gelöst und zu einer Schwingung innerhalb des Kunstwerks verwandelt. Über kulturelle Grenzen und Differenzen, über lokale Bindungen und Bildungen, über historische und technische Abstände hinweg ›begegnen‹ sich hier die montanen Kulturstätten der Welt in einer Kunst, die eine formale Identität der vielen Herkünfte auszudrücken vermag.
Darum spielt der Eisenmeteoritstaub aus Namibia, den die Künstlerin überall verwendet, eine so bedeutende Rolle. Denn es gibt gute Gründe anzunehmen, dass vor etwa zehntausend Jahren auch die Inspiration für Metallurgie und Bergbau von den zufällig gefundenen Eisenmeteoriten ausging. Welch eine Kette von Unwahrscheinlichkeiten, damit vor Tausenden von Jahren aufgeweckte Köpfe irgendwo auf der Welt diese oft silbrig schimmernden Eisenmeteoriten in Augenschein nahmen und ihre metallurgische Verarbeitungsfähigkeit entdeckten! Gleichsam vom Himmel her begannen so vielleicht der Bergbau und die Erzschmelze, die zuerst allerdings nicht das Eisen, sondern das leichter trennbare Kupfer zum Ziel hatten, das Kupfer, das für das Erste der metallischen Zeitalter seinen Namen hergab. Darum stellt Angela Clement die Eisenmeteorite und das Kupfer mehrfach in eine symbolische Konfiguration. Sie sind das Initial der ersten globalisierten Technik und mithin Beginn unserer Zivilisation.
Bei so viel kosmischem und terrestrischem Zusammenspiel darf nicht fehlen, was zu den Ur-Imaginarien der Menschheit gehört: die Besetzung des Sternengewimmels mit Figuren und Bedeutungen. Daraus gingen, aus einer Wurzel, Astronomie und Astrologie hervor, die Mess- und die Lesekunst des Himmels, das Sternengefild als mathematische Ordnung oder als Bedeutungsschrift. Zu den eindrucksvollsten Werken Angela Clements gehören die Installationen der Sternbilder des Orion und des Großen Bären (Ursa Maior). Auch diese Werke sind Bestandteile jener Erinnerungsarbeit, der sich die Kunst der Angela Clement verschreibt. Denn die Ursa Maior ist das Zeichen einer mythischen Erinnerung. Sie ist die verstirnte Callisto, jene von Zeus verführte Jungfrau aus dem Gefolge der Artemis, die, als ihre Schwangerschaft an den Tag kommt, von der jungfräulichen Göttin der Jagd verstoßen und von der eifersüchtigen Ehefrau des Jupiters in eine struppige Bärin verwandelt wird. Als solche begegnet sie, fünfzehn Jahre später, ihrem jagenden Sohn, der, seine bärengestaltige Mutter nicht erkennend, diese beinahe erlegt hätte, wären nicht beide von Zeus als Sternbilder an den Himmel versetzt worden.
In beinahe allen Werken der Künstlerin dominiert die geometrische, ja kartografische Konstruktion. Es geht um die Vermessung von kosmischen, terrestrischen und mythischen Erinnerungslandschaften. Doch die mythischen Narrationen werden abgelöst von den Assoziationen, die sich visuell aus den verwendeten mineralischen Pigmenten, den Erzen aus aller Welt und den Meteoritenfragmenten ergeben. Die antike Himmelsschrift und die montanen Mythen werden eingebaut in das transkontinentale Korrespondentennetz der Erzlagerstätten und in die ebenso ästhetische wie ökonomischtechnische Sprache, welche die Mineralien und Metalle heute sprechen. Dies darf man getrost eine andere, eine ästhetische Form der Globalisierung nennen. Besonders deutlich tritt die Hommage an das Kupfer hervor, jenes primordiale Metall der Bergbaukultur, jenes Metall auch, das mit Zinn legiert in zahllose Bronzekunstwerke einging. Kupfer wurde dann zum Königsmetall des elektrotechnischen Zeitalters. Unvergleichbar mit allen anderen Naturstoffen kann Kupfer nahezu infinit wiederaufgebreitet werden kann, sodass noch heute etwa 80% der gesamten jemals geförderten Kupfermenge im Kreislauf des menschlichen Wirtschaftens unterwegs ist. Auch dies ist eine Form materialer Erinnerung. Vielleicht berechtigt dieser ewige Kreislauf des Kupfers, es für einen heiligen Stoff zu halten, wie die Ägypter, oder es wie die Griechen mit der Göttin Aphrodite in Verbindung zu bringen, deren Insel Zypern reiche Kupferstätten barg und Zentrum von Kupfer verarbeitenden Gewerke war, sodass der Name Kupfer/cyprum auf die antike Insel der Liebesgöttin zurückgeht.
Die memorative Tiefe der Kunst tritt auch in dem zweiten Sternbild hervor, aus dem Angela Clement eine Installation schafft: dem Orion. Orion ist jener sterbliche, doch unsagbar schöne Jäger, der von der rosenfingrigen Eos, der Göttin der Morgenröte, geliebt und entführt wird, bis schließlich Artemis ihn tötet. Odysseus sieht ihn noch im Hades unermüdlich sein jagdliches Handwerk betreiben.
Auch Orion ist, wie Odysseus selbst, ein Symbol der Ruhelosigkeit und Schönheit von Menschen, die die Liebe und die Eifersucht der Götter herausfordern, was ihre Größe ebenso wie ihren Untergang herausfordert. Gewiss kann man darin Sinnbilder des Menschlichen, ihren Untergang überhaupt, erkennen, Opfer der Schönheit und der Jagd, die doch ihr Werk sind; Sterbliche eines Spiels, das zwischen dem Erdinneren und den Himmelsfernen rätselhafte Figuren bildet. Hinabsteigen und Hinaufsteigen, in die Tiefe des Bergs oder auf die Höhen der Gestirne, – die Vertikale ist die mythische Raumachse, welche den Menschen am stärksten herausfordert. So haben die Menschen seit je ihre Leidenschaft darangesetzt, die memorative Chiffrenschrift der Berge und die des Himmels zu enträtseln. Heute, wo alles, das Berginnere mit seinen erzenen Lagern wie die Himmelsweite mit ihrer Sternenschrift, gleichsam erkaltet und aufgeklärt ist, kann die Kunst vielleicht noch die Erinnerung wachhalten an die vergangenen Geheimnisse, die uns an die Metalle, die Meteoriten oder die Gestirne fesselten.
Dabei spielt die Erinnerung an die eigene Kindheit stets mit. In einem gesonderten Werk nimmt die Künstlerin eine Erinnerung Heinrich Heines auf, des Eponymen der Düsseldorfer Universität. Ihm hatte man erzählt, dass Gott alle vergangenen Vollmonde in einem Schrank aufbewahre, ein märchenhaftes Archiv der Zeit in ihrem Rhythmus von Wachsen und Vergehen, der volle Mond als Frucht: Diese Kindheitserinnerung war Heine auf seiner Harzreise, am Fenster vis-à-vis des vom Mond überschienenen Rammelsbergs eingefallen, und heute nimmt die Künstlerin das Märchen der Kindheit beim Wort und schenkt dem kleinen Jungen und großen Dichter die kupfern glänzenden Monde zurück, versammelt in einem Schrank, der Kunst- und Wunderkammer und zugleich ein Topos der Erinnerung ist an etwas, was unerreichbar im Vergangenen liegt.
Meine Damen und Herren: Sie werden verstanden haben, dass ich mit diesen Überlegungen für einen Stil und eine Kunst der Memoria plädiere, die in anderen Formen und Techniken arbeitet als unsere Datenbanken und informationellen Wissenssysteme. Auch diese Memoria erschließt den Tiefenraum der Geschichte und den Horizont der Globalisierung. Sie tut es in Formen der Korrespondenz und der Assoziation, die, vergessen wir das nicht, auch Formen der Vergesellschaftung und der Kultivierung von Menschen darstellen. Dessen eingedenk werden wir leichter zugestehen, dass die Globalisierung, die uns in den robusten Systemen universaler Technik, der Ökonomie, des Krieges und des Terrorismus begegnet, der »zarten Empirie« (Goethe) der Kunst und der Erinnerung, des Eingedenkens von Geschichte bedarf, damit eine heilsame Assoziation der Weltkulturen wenn schon nicht real, so doch wenigstens möglich erscheint. Darum war, was Sie gehört haben, keine theoretische, systematische oder programmatische Erklärung, sondern eben eine Assoziation, in der Kunst und ihre Auslegung sich begegnen – durchaus in jenem universellen Horizont, den die Wissenschaften für sich reklamieren. Die Demut, von der ich eingangs sprach, und die zu den Tugenden von Wissenschaft gehört, besteht in nichts anderem als in der Achtung vor den gänzlich anderen Logiken, in denen Künste und Kulturen, aber auch die Memoria operieren.
Den Preis, den ich heute zu empfangen die Ehre habe, möchte ich meinen drei Töchtern widmen, von denen ich mehr habe lernen können als von Bibliotheken, besonders von meiner ältesten Tochter, die als junge Frau an Multipler Sklerose erkrankte und seither diese Krankheit mit ebenso viel Erdulden wie Tapferkeit trägt.